Analyse

: Wie realistisch sind Neuwahlen in Deutschland?

von Thomas Reichart, Berlin
10.06.2024 | 16:31 Uhr
Die Wahllokale waren kaum geschlossen, da forderten Unionsleute schon Neuwahlen. In Frankreich hat Präsident Macron genau das angekündigt. Wie realistisch ist das in Deutschland?

Die Union sieht in dem Europawahlergebnis ein klares Misstrauensvotum gegen den Kanzler und fordert daher Neuwahlen. ZDF-Hauptstadtkorrespondent Thomas Reichart ordnet ein.

10.06.2024 | 03:16 min
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hält sich heute nicht lange auf mit Lob an die Wahlkämpfer und nicht zuletzt an sich selbst. Denn eigentlich geht es ihm um seinen Lieblingsgegner, um Olaf Scholz. Die Europawahl sei ein ganz klares Misstrauensvotum gegen den Kanzler.
"Olaf Scholz ist König Olaf ohne Land", findet Söder. Er habe keine Legitimation mehr.
Deswegen ist die logische Konsequenz: Neuwahl, Vertrauensfrage und am Ende Rücktritt.
Markus Söder (CSU), Ministerpräsident Bayern
So ähnlich fordern es viele in der Union. Wobei keiner die Reihenfolge für ein solches Prozedere derart durcheinanderbringt wie Söder.

Die Union sei mit großem Abstand zurück auf Platz eins, freut sich der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz.

09.06.2024 | 01:39 min

Voraussetzung für Neuwahlen: die Vertrauensfrage

Vorgezogene Neuwahlen gibt es in Deutschland nur in Ausnahmefällen, wenn der Bundespräsident den Bundestag vor Ablauf der Wahlperiode auflöst. Sie stehen nicht am Anfang, sondern am Ende eines Prozesses, den das Grundgesetz mit einigen Hürden versehen hat.

Nach dem schlechten Abschneiden der SPD werden Forderungen der Union nach Neuwahlen von der Ampel zurückgewiesen, sagt ZDF-Haupstadt-Korrespondentin Diana Zimmermann.

10.06.2024 | 02:42 min
Scholz müsste im Bundestag die Vertrauensfrage stellen. Die eigenen Leute aus der Ampel müssten dabei gegen ihn stimmen. Der Kanzler könnte dann den Bundespräsidenten bitten, den Bundestag aufzulösen.
Gerhard Schröder hat das 2005 nach einer schweren Niederlage der SPD bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen so gemacht.
ZDFheute Infografik
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Er halte es für seine Pflicht und Verantwortung, so Schröder damals, "darauf hinzuwirken, dass der Herr Bundespräsident von den Möglichkeiten des Grundgesetzes Gebrauch machen kann, um so rasch wie möglich - also realistischerweise für den Herbst dieses Jahres - Neuwahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen".

Die Union klar stärkste Kraft, SPD und Grüne verlieren, AfD und BSW gewinnen. Was sind die Reaktionen im politischen Berlin nach der Europawahl?

10.06.2024 | 02:34 min

Regierung Schröder verlor bei Neuwahl 2005

Es war eine Hochrisiko-Entscheidung, mit der Schröder hoffte, die Kritiker in den eigenen Reihen zu disziplinieren und den politischen Gegner zu überrumpeln. So etwas Ähnliches versucht Frankreichs Präsident Macron jetzt wieder mit seiner Neuwahl-Ankündigung.
Anders als Schröder setzt Macron dabei nicht sein eigenes Amt aufs Spiel. Es geht schließlich um Wahlen fürs Parlament, der Präsident selbst steht in Frankreich erst 2027 wieder zur Wahl. Macron zockt insofern weit weniger riskant als Schröder damals.

Macron hoffe durch Neuwahlen "auf einen Mobilisierungsschub", weil viele eine rechtsgerichtete Politik nicht wirklich wollten, so ZDF-Korrespondent Walde in Paris.

10.06.2024 | 02:19 min
Aber würde Scholz den Schröder machen? Warum sollte er - wäre die erste Gegenfrage. Zunächst mal verlor Schröder die vorgezogenen Neuwahlen, Angela Merkel wurde Bundeskanzlerin. Für die SPD kein sehr ermutigendes Beispiel - zumal sie damals bei Schröders Ankündigung bundesweit bei knapp 30 Prozent stand, heutzutage bei der Hälfte.

Ampel "verdonnert" zum Beisammenbleiben

Deshalb sagt auch SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert:
Das ist kein Auftrag zur Neuwahl des Deutschen Bundestags gewesen.
Kevin Kühnert, SPD-Generalsekretär
Die Unions-Forderung nach Neuwahlen sind deshalb wie der Scheinriese in Michael Endes Kinderbuch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Sie wirkt riesig und dramatisch, aber je näher man sie betrachtet, desto mehr schrumpft sie zusammen. Weil sie ziemlich unrealistisch ist.
Für die Ampel allerdings ist das alles andere als eine Beruhigung. Sie ist nun quasi verdonnert dazu beisammen zu bleiben, weil alles andere mindestens so desaströs ausginge wie diese Europawahl.
Und sie hat im Grunde nur noch ein gutes Jahr, um ihre eigene Bilanz im Auge der Wähler zu verbessern. Dann sind eh schon wieder Wahlen - keine vorgezogenen Neuwahlen, sondern die ganz regulären zum nächsten Bundestag.
Thomas Reichart ist Korrespondent im ZDF-Hauptstadtstudio in Berlin.

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