: Russland - Einblicke in ein schweigendes Land

von Joachim Bartz, Katja Belousova
21.02.2023 | 05:18 Uhr
Wie geht es den Russen - ein Jahr, nachdem ihr Land die Ukraine überfallen hat? Die einen vermissen das Reisen, andere die ausgereisten Freunde. Einblicke in ein schweigendes Land.

Das Volk geschlossen hinter Putin - so zeigt sich der Kreml gerne. Doch seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine haben bereits mehrere hunderttausend Menschen Russland verlassen.

21.02.2023 | 12:14 min
Seit einem Jahr wütet Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. In dieser Zeit hat Kremlchef Wladimir Putin dem Nachbarland Tod und Verwüstung gebracht. 
Auch an der russischen Bevölkerung geht der Krieg nicht spurlos vorbei. "Die Gesellschaft befindet sich psychologisch in einem Schockzustand, der sich nach der ersten Mobilisierungswelle stark verschärft hat", sagt Leonid Wolkow im Gespräch mit ZDF frontal. 
Selbst diejenigen, die der monatelangen Propaganda glaubten, dass alles nach Plan laufe, begannen zu erkennen, dass etwas nicht stimmte und dass anscheinend etwas nicht nach Plan lief.
Leonid Wolkow, Oppositioneller
Wolkow ist Chef der Antikorruptionsstiftung und enger Vertrauter des inhaftierten Kremlgegners Alexej Nawalny. Wie unzählige andere Russen ist Wolkow geflohen und lebt im Exil. Gegen ihn laufen in Russland zehn Strafverfahren.  

Seit zwei Jahren ist der russische Oppositionelle Alexej Nawalny in Haft. Sein Team gilt in den Staatsmedien als extremistisch verboten, doch auf Social Media nutzen sie seine Strahlkraft.

17.01.2023 | 01:59 min

Wie geht es den Menschen in Russland?

Doch wie geht es jenen, die Russland nicht verlassen können oder wollen? Eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist nicht leicht - die Mehrzahl will sich nicht öffentlich äußern. Auch Umfragen, die in dem repressiven Staat durchgeführt werden, sind wenig aussagekräftig - selbst von unabhängigen Instituten wie Lewada. 
Lewada stellt die Frage: Unterstützen Sie den Krieg, oder nicht? Die Menschen, die diese Frage beantworten, wissen sehr genau, dass eine falsche Antwort bis zu 15 Jahre Gefängnis bedeuten kann.
Leonid Wolkow, Oppositioneller
ZDF frontal ist es dennoch gelungen, die Eindrücke einiger Russinnen und Russen im Land zu sammeln - mithilfe von Andrej Moisejkin. Der Lokalpolitiker aus Sankt Petersburg verließ Russland im Herbst, aus Angst vor der Teilmobilmachung. Seit Dezember lebt er in Potsdam. Für ZDF frontal hat er Freunde, die noch im Land sind, gefragt, wie die Stimmung in Russland ist und was die Menschen dort über den Krieg in der Ukraine denken. 
Antworten kamen aus ganz Russland, von Sankt Petersburg im Westen bis Wladiwostok im Osten. Die Menschen waren einverstanden, dass frontal ihre Antworten dokumentiert. Ihre Erfahrungen sind zwar nicht stellvertretend für alle Menschen im Land - ermöglichen aber Einblicke ins aktuelle Innenleben des autoritären Systems.

Sendehinweis frontal

Quelle: ZDF
Mehr zu dem Thema sehen Sie bei frontal. Am Dienstag läuft um 21 Uhr im ZDF und in der ZDF-Mediathek eine Sendung zu einem Jahr Ukraine-Krieg.

Stimme aus St. Petersburg: "Jetzt sind alle weg"

Sascha aus Wladiwostok will - wie einige der Befragten - seinen Nachnamen lieber nicht nennen. Er führt eine Telekommunikationsfirma und hat vor allem etwas zur Versorgungslage im Land zu sagen:
Ich weiß, dass es im Westen Gerüchte gibt, dass unsere Supermärkte leer seien. Aber das stimmt nicht. Es gibt absolut alles.
Sascha aus Wladiwostok
Sergej Troschin ist Lokalpolitiker der Oppositionspartei Jabloko in Sankt Petersburg. Er wiederum vermisst die westlichen Marken. "Ich bin jetzt im Einkaufszentrum Newskij, hinter mir ist ein ehemaliger H&M -Laden, ich war da oft. Jetzt ist es dort dunkel", erklärt er.
Troschin vermisst auch viele seiner Freunde. Seit Kriegsbeginn haben schätzungsweise eine Million Russen ihr Land verlassen, 700.000 Kriegsdienstverweigerer und 300.000 Regimekritiker. 
Früher kamst Du von einem Freund, trafst zufällig einen anderen. Ludst ihn ein, wurdest eingeladen, konntest Dich gut unterhalten. Jetzt sind alle weg.
Sergej Troschin aus Sankt Petersburg

Umgang der Menschen in Russland verändert sich

Stanislaw arbeitet als Elektriker in Sankt Petersburg. Ihm fällt auf, wie sich der Umgang der Menschen untereinander verändert hat. "Weil es einfach gefährlich geworden ist, zu kommunizieren. Und die Leute, glaube ich, wissen das und es ist stiller geworden", sagt er.
Es gibt viel weniger politische Aktivität und weniger in den sozialen Medien. Weil die Leute verstehen, dass man ziemlich schnell bestraft und verfolgt wird.
Stanislaw aus Sankt Petersburg
Für Unternehmerin Jekaterina aus Sotschi sind die Sanktionen des Westens gegen den russischen Finanzsektor deutlich spürbar: "Ich liebe es, zu reisen. Doch erstens: Die Zahl der Länder, in die ich noch reisen kann, ist begrenzt. Und zweitens funktionieren meine Geldkarten im Ausland nicht mehr".
Raus ins Ausland will auch Pawel - und zwar für immer. Der IT-Spezialist aus Nowosibirsk sagt: "Es ist nicht garantiert, dass sich die Situation in den nächsten fünf bis zehn Jahren wesentlich ändert. Selbst wenn der Krieg endet, heißt das noch lange nicht, dass sich im Land etwas zum Guten verändert. Es könnte sogar noch schlimmer werden."
Bisher wollte ich mich hier im Land entfalten, jetzt versuche ich alles, um für den englischsprachigen Markt zu arbeiten.
Pawel aus Nowosibirsk

Russlands "raue Wirklichkeit"

In Samara lebt der parteilose Abgeordnete und Programmierer Alexander Schatilow. Er sieht die Teilmobilmachung im Herbst als entscheidenden Kipppunkt der Stimmung unter der russischen Bevölkerung: "Das Wohlgefühl war plötzlich weg. Sie mussten raus aus der virtuellen Welt, in die einen das Fernsehen reinzieht. Sie mussten rein in die raue Wirklichkeit."
Wie die raue Wirklichkeit aussieht, wissen vor allem jene Menschen, die sich noch trauen, in Russland zu protestieren. Einige stellen sich allein auf Straßen, halten Schilder mit "Nein dem Krieg" in die Höhe - oder Plakate, mit denen sie die Massenverhaftungen kritischer Stimmen anprangern.  
Andere finden aufsehenerregendere Protestformen: So reißt die Serie von Brandanschlägen auf Militärkommissariate in Russland nicht ab. 84 sind es seit Kriegsbeginn. Sie werden zur eigenen Protestform gegen den Angriffskrieg.

Propaganda im Fernsehen und außerhalb

Und was ist mit denen, die den Krieg unterstützen? Auch die gibt es in Russland. Nicht zuletzt im staatlichen Propaganda-Fernsehen: Soldaten-Mütter, die ihre Söhne als "Helden" in den Krieg schicken, Talkshow-Moderatoren, die regelmäßig von der Auslöschung der Ukraine fantasieren. Auch außerhalb der Fernsehsendungen gibt es Unterstützer, die an das Narrativ von der "Entnazifizierung" der Ukraine glauben, den Krieg deshalb für notwendig halten.

Der Krieg in der Ukraine wird nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten geführt. Propagandisten versuchen auch in Deutschland, die öffentliche Meinung zu manipulieren.

10.03.2023 | 29:02 min
Doch sind diese Menschen in der Mehrheit? Leonid Wolkow glaubt das nicht. "Es gibt eine aktive Minderheit, die für den Krieg ist. Es gibt eine Propaganda, die alles tut, um die Stimmen dieser Minderheit so groß wie möglich zu machen", sagt er.
Und die Stimmen derjenigen, die gegen den Krieg sind, werden durch Repressionen zum Schweigen gebracht.
Leonid Wolkow, Oppositioneller
Für die meisten Russen ist Schweigen das Gebot der Stunde und bleibt - neben dem Schock - die wohl häufigste Reaktion auf ein Jahr Krieg.

Sendehinweis "Zeitenwende Global"

Mehr zur Situation in Russland, zu Putins Krieg, seinen Verbündeten und der Angst des Westens sehen Sie auch in der dreiteiligen auslandsjournal-Dokumentation "Zeitenwende Global". Ab dem 22. Februar 2022 um 20 Uhr in der ZDF-Mediathek. 
Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:

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