: Bis zu 375 Millionen Kinder ausgebeutet?

von Marcel Burkhardt (Text), Michaela Waldow (Grafiken)
18.12.2022 | 11:49 Uhr
Im Juni warnte Unicef vor einem Scheitern im Kampf gegen Kinderarbeit. Eine neue Studie legt nahe, dass weltweit weit mehr Kinder geknechtet werden als bislang angenommen.
Kinderarbeit in BangladeschQuelle: dpa

Das Wichtigste in Kürze

  • Laut Unicef werden weltweit 160 Millionen Kinder ausgebeutet.
  • Ein Studie der Uni Zürich kommt zu dem Schluss, dass das Ausmaß an Kinderarbeit aber noch viel größer sein könnte.
  • Save the Children fordert bessere Untersuchungsmethoden.
Wie viele Kinder schuften weltweit in Kakaoplantagen, Bergwerken und Fabriken für unsere Schokolade, Handys, Kleidung und vieles mehr? Sind es 160 Millionen oder - wie eine neue Studie schätzt - sogar bis zu 375 Millionen?
Gewiss ist: Setzt sich der aktuelle Negativtrend fort, droht die Weltgemeinschaft ihr Ziel, Kinderarbeit bis 2025 zu beseitigen, deutlich zu verfehlen.

Ein weltweites Beben, ausgelöst in Zürich?

Guilherme Lichand, Wirtschaftswissenschaftler der Universität Zürich und Hauptautor der Studie, ist ein Mensch, der vorsichtig formuliert. Was er zu sagen hat, könnte aber ein Beben auslösen - bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) und Regierungen in aller Welt, die verpflichtet sind, Kinderrechte zu verteidigen.
Denn, so Lichand, die von der ILO und Unicef berichtete Zahl von 160 Millionen Kinderarbeitern weltweit "könnte das Ausmaß des Problems bedeutend unterschätzen".

Serie: Kinderarbeit ufert aus

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse legen nahe, dass das Ausmaß der globalen Kinderausbeutung womöglich noch größer ist als bislang bekannt. Was sind die Ursachen? Wer trägt wirtschaftlich und politisch Verantwortung? Welche Macht haben internationale Finanzinvestoren? Und helfen neue Lieferkettengesetze, Kinderrechte künftig besser zu schützen?

ZDFheute geht diesen Fragen in einer siebenteiligen Serie nach. Bisher erschienen:

"Eltern haben keinen Anreiz", Kinderarbeit offenzulegen

Gemeinsam mit Co-Autorin Sharon Wolf von der University of Pennsylvania (USA) verweist der Ökonom darauf, dass die ILO-Informationen wesentlich auf Eltern-Umfragen beruhten. Der Haken: Eltern hätten "keinen Anreiz, wahrheitsgemäß offenzulegen, dass ihre Kinder arbeiten".
Auf mehrfache ZDFheute-Anfrage hat sich die ILO bislang nicht zu der Kritik geäußert. Auch Claudia Cappa, Statistik-Expertin am Unicef-Hauptsitz New York, kommentiert die Studie nicht. Sie spricht aber von einem "komplexen Unterfangen", qualitativ hochwertige Daten über Kinderarbeit zu erhalten.

Elfenbeinküste: Hotspot gefährlicher Kinderarbeit

Für ihre Feldstudie in der Elfenbeinküste, wo zur Kakaoernte Hunderttausende Kinder extrem armer Kleinbauern in den Plantagen arbeiten müssen, setzten Lichand und Wolf auf eine Kombination aus "unabhängigen Berichten" von Grundschulkindern und deren Eltern, Daten der Nonprofit-Organisation Enveritas, die im Auftrag großer Unternehmen Kakao zertifiziert sowie auf Daten aus Satellitenbildern. Das Ergebnis der Stichprobe:
Mehr als 60 Prozent der Eltern haben nicht über die Tatsache berichtet, dass ihre Kinder arbeiten.
Forscherteam Guilherme Lichand und Sharon Wolf
Auch in einer Reihe anderer Staaten hat Lichand zwischen den ILO-Kinderarbeitsdaten und seinen Berechnungen teils extreme Differenzen ausgemacht. So kommt er in Indien und Brasilien, aber auch in europäischen Ländern wie Serbien, Rumänien oder Portugal auf viel höhere Zahlen für Kinderarbeit als die ILO.
ZDFheute Infografik
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375 Millionen ausgebeutete Kinderarbeiter weltweit?

Lichand berichtete in seinem Heimatland Brasilien, dass laut seinen statistischen Modellrechnungen weltweit bis zu 375 Millionen Kinder im Alter von sieben bis 14 Jahren von Kinderarbeit betroffen sein könnten. So erklärt Lichand auf ZDFheute-Nachfrage:
Diese Schätzung stützt sich auf einige starke Annahmen, insbesondere, dass der Grad der Untererfassung von Kinderarbeit in anderen Ländern und Branchen dem der ivorischen Kakaoindustrie ähnelt.
Guilherme Lichand, Universität Zürich
Der Forscher verweist auf mögliche "Verzerrungen" in seinen komplexen Berechnungen. Gleichzeitig sagt er: "Auch die ILO ist sich bewusst, dass ihre Methodik Grenzen hat." Wichtig sei ihm vor allem, auf eine mögliche "gravierende und dramatische Unterschätzung" des Ausmaßes der globalen Kinderarbeit hinzuweisen. 

Erst die Daten, dann die Aktionsprogramme

Santadarshan Sadhu, Datenerhebungsspezialist am NORC-Institut der Universität von Chicago (USA), unterstützt Lichands Ziel nachdrücklich. Schließlich habe die Qualität der erhobenen Daten große Auswirkungen auf Programme zur Bekämpfung gefährlicher und ausbeuterischer Kinderarbeit.
Regierungen und internationale Organisationen könnten Kinder effektiv nur schützen, wenn Kinderarbeit "so akkurat wir nur möglich erfasst" werde, so Sadhu im Gespräch mit ZDFheute.

Kinderarbeit in Sumbawa: Das harte Schicksal von Kinderjockeys

01.12.2022 | 86:23 min

Eltern in der Zwickmühle?

Während Unicef-Statistikexpertin Cappa die bisher geleistete "rigorose methodische Arbeit" verteidigt und ethische Bedenken erörtert, die gegen das Befragen von Kindern sprächen, plädiert Philipp Appel von der Kinderhilfsorganisation "Save the Children" für ein konsequentes Weiterentwickeln der Umfragemethoden.
Elternaussagen als wesentliche Quelle zum Thema Kinderarbeit betrachtet Appel als unzureichend: "Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Eltern nicht immer akkurate Zahlen angeben wollen", so Appel.
Das habe etwas mit Unsicherheit und Angst vor möglichen Konsequenzen zu tun und auch damit, "dass Eltern sich dafür schämen, die Arbeitskraft ihrer Kinder für das Aufbringen des Haushaltseinkommens zu erfordern".

Kinderarbeit extrem stark verbreitet

Anmelderaten in Schulen und eine Kontrolle des Schulbesuchs könnten eine wichtige Quelle sein, um das tatsächliche Ausmaß von Kinderarbeit künftig genauer zu messen.
Uns muss immer klar sein, dass es in nahezu jeder Branche Kinderarbeit gibt. Deswegen ist es sehr wahrscheinlich, dass die Daten der ILO allenfalls eine Entwicklungsrichtung zeigen.
Philipp Appel, Save the Children Deutschland

Was ist Kinderarbeit?

Mit dem Begriff "Kinderarbeit" wird Arbeit beschrieben, die der körperlichen und geistigen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen schadet und/oder sie am Schulbesuch und Bildung hindert. Zu den schlimmsten Formen der Kinderarbeit zählen die Vereinten Nationen Tätigkeiten, die unter kriminellen und ausbeuterischen Bedingungen erfolgen und schädlich für die seelische und körperliche Gesundheit und Sicherheit sind.

Dazu zählen Kinderprostitution und Kinderpornografie, der Missbrauch von Kindern als Sklaven und Zwangsarbeiter, Soldaten oder Drogenschmuggler sowie schwer gesundheitsgefährdende Tätigkeiten wie Arbeit in Steinbrüchen oder in Bergwerken, das Tragen schwerer Lasten, der Umgang mit Chemikalien und gefährlichen Werkzeugen sowie Nachtarbeit.

Als Hauptgrund für Kinderarbeit gelten extreme Armut und Existenznot von Familien. Zuletzt hat die Corona-Pandemie weltweit Millionen Menschen ins Elend gerissen. Aber auch ausbeuterische Wirtschaftspraktiken, fehlende politische Fürsorge und Rechtsbrüche gelten als systemische Gründe für Armut und Kinderarbeit.

Wer ist von Kinderarbeit betroffen?

Laut Unicef ist die Zahl der Kinder von fünf bis elf Jahren in Kinderarbeit zuletzt deutlich angestiegen, sodass diese Altersgruppe inzwischen weltweit "etwas mehr als die Hälfte der von Kinderarbeit betroffenen Kinder stellt". 70 Prozent der Mädchen und Jungen arbeiten in der Landwirtschaft, 20 Prozent im Dienstleistungssektor und zehn Prozent in der Industrie.

Vom Schulbesuch abgehalten sind laut Unicef fast 28 Prozent der Kinderarbeiter im Alter von fünf bis elf Jahren und 35 Prozent der betroffenen Kinder im Alter von zwölf bis 14 Jahren. Die Zahlen zeigen: Kinderarbeit beeinträchtigt oder verhindert die Bildung der Kinder und grenzt ihre Zukunftschancen somit stark ein. Die meisten arbeitenden Kinder leben in Afrika und Asien.

Woher bezieht Unicef Informationen über Kinderarbeit?

"Eine der größten Quellen für statistisch fundierte und international vergleichbare Daten zur Kinderarbeit ist das von UNICEF unterstützte internationale Haushaltserhebungsprogramm Multiple Indicator Cluster Surveys (MICS)", erklärt Claudia Cappa, Unicef-Statistikexpertin. Dabei handele es sich um staatlich geführte Haushaltserhebungen, für die Unicef technische und finanzielle Hilfe leiste. "Bei einer typischen Haushaltsbefragung besuchen geschulte Feldarbeitsteams eine repräsentative Stichprobe von Haushalten und führen persönliche Interviews mit validierten Tools und Methoden durch", so Cappa.

Die Unicef-Expertin verweist in dem Zusammenhang auf "strenge Datenqualitätsprüfungen, die während der gesamten Umfragedurchführung angewendet werden". Ein international aktiver Datenerhebungsexperte, der namentlich nicht zitiert werden möchte, kritisiert dagegen "aus eigener Beobachtung" die häufig mangelhafte Ausstattung von Umfrage- und Kinderarbeit-Beobachtungsteams in ärmeren Ländern. Dies könne durchaus "einen wesentlichen negativen Einfluss auf die Qualität der Daten" haben.

Was fordert Unicef im Kampf gegen Kinderarbeit?

Setzt sich der aktuelle Negativtrend fort, steigt die Zahl ausgebeuteter Kinder weltweit weiter an statt bis 2025 gegen Null zu schrumpfen. Um den "generationenübergreifenden Teufelskreis" von Armut und Kinderarbeit zu brechen, fordert das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen unter anderem einen "angemessenen sozialen Basisschutz für alle, einschließlich der existenzsichernden finanziellen Absicherung von Kindern".

Das Kinderhilfswerk fordert zudem mehr Mittel für Bildung und den Aufbau von Bildungsinfrastrukturen in Regionen, in denen es bislang keine Schulen gibt. Außerdem fordert Unicef eine "Förderung von menschenwürdiger Arbeit für Erwachsene, damit Familien nicht auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen sind", um das Familieneinkommen zu sichern.

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