: Kinderarbeit "in nahezu jeder Branche"

von Marcel Burkhardt (Text) und Michaela Waldow (Grafiken)
28.12.2022 | 11:00 Uhr
Kritiker werfen Unternehmen vor, großen Gewinn aus der Arbeit "versklavter Kinder" zu ziehen. Die Wirtschaft dementiert und sieht sich doch zum Handeln gezwungen.
Kinderarbeit ist in weiten Teilen der Welt verbreitet: So wie hier in Afghanistan, wo zwei Mädchen Granatapfelkerne sortieren. (Archivbild)Quelle: epa

Das Wichtigste in Kürze

  • „Moderne Sklaverei“ findet laut Aussage der Internationalen Arbeitsorganisation ILO auf der ganzen Welt statt
  • Besonders schwer tut sich etwa die Schokoladenindustrie, Kinderarbeit in ihren Lieferketten zu beseitigen
  • Kritiker werfen den Unternehmen vor, ihre Versprechen über 20 Jahre lang gebrochen zu haben
"Moderne Sklaverei findet in jeder Region der Welt statt", konstatiert die Internationale Arbeitsorganisation ILO. Und ausbeuterische Kinderarbeit ist ein Teil davon - "in nahezu jeder Branche", wie Philipp Appel von Save the Children Deutschland sagt.
Die Ausbeutung von Kindern ist ein altes und extrem effizientes Geschäftsmodell - es reduziert Kosten, steigert Profite. Deshalb beuten auch heute viele Konzerne Kinder in ihren Lieferketten aus.
Fernando Morales-de la Cruz, Menschenrechtsaktivist
Ein Vorwurf, den Unternehmen vehement zurückweisen. Ein Sprecher der Firma Storck erklärt ZDFheute indes, dass eine wirksame Kontrolle der Lieferkette "niemandem möglich sei".

Serie: Kinderarbeit ufert aus

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse legen nahe, dass das Ausmaß der globalen Kinderausbeutung womöglich noch größer ist als bislang bekannt. Was sind die Ursachen? Wer trägt wirtschaftlich und politisch Verantwortung? Welche Macht haben internationale Finanzinvestoren? Und helfen neue Lieferkettengesetze, Kinderrechte künftig besser zu schützen?

ZDFheute geht diesen Fragen in einer siebenteiligen Serie nach. Bisher erschienen:

Kinder-Ausbeutung auch in US-Automobilindustrie

Vor allem in Afrika und Asien schuften Kinder auf Plantagen, in Bergwerken oder Fabriken. Doch auch in Europa und den USA gibt es ausbeuterische Kinderarbeit.
Jüngst enthüllte die Nachrichtenagentur Reuters, dass über Jahre hinweg "Kinderarbeiter in der gesamten Hyundai-Kia-Lieferkette" im US-Bundesstaat Alabama ausgenutzt worden seien.
Die Skandalliste ist lang. Denn das Versprechen, Kinderrechte zu schützen, wird weiter millionenfach gebrochen.
ZDFheute Infografik
Mehr
Mehr
Mehr

Schokoladenindustrie schwer in der Kritik

Von Menschenrechtsorganisationen, aber auch Investoren wird die Schokoladenindustrie besonders kritisch beäugt - ein Wirtschaftszweig, der global jährlich mehr als 100 Milliarden US-Dollar Umsatz macht.
Das Inkota-Netzwerk, eine entwicklungspolitische Organisation, bezeichnet es als den "größten Skandal", dass kein großer Schokoladenhersteller garantieren könne, "dass in seinen Produkten keine Kinderarbeit steckt".

"Lächerlich niedrige Preise" und Sklavenarbeit?

Der Investigativjournalist und Pulitzer-Preisträger David Cay Johnston geht sogar so weit, zu sagen:
Sieben große Lebensmittelhersteller - Hershey, Mars, Mondelez, Nestlé, Cargill, Barry Callebaut und Olam - machen den größten Teil der Gewinne aus der Arbeit versklavter Kinder.
David Cay Johnston, Investigativjournalist
Sein Argument: Die Unternehmen nutzten ihre Macht, um Preise für Kakaobohnen "auf ein lächerlich niedriges Niveau zu drücken", was de facto Sklavenarbeit zur Folge habe.
Den Vorwurf weisen die Unternehmen weit von sich: Den Preis bestimmten nicht sie allein, sondern der Markt, durch Angebot und Nachfrage.
ZDFheute Infografik
Mehr
Mehr
Mehr

Schweizer Schokoriese hinkt eigenen Zielen hinterher

Der Schweizer Schokoladenhersteller Barry Callebaut, an dem die deutsche Jacobs-Familie große Anteile besitzt, bezeichnet sich selbst als "Herz und Motor der Schokoladenindustrie", als Gestalter der "Welt von Kakao und Schokolade", der "jeden Schritt der Wertschöpfungskette beherrscht".
Beherrscht das Unternehmen aber auch seine Lieferketten? Auf ZDFheute Anfrage heißt es: "Im Rahmen unserer Nachhaltigkeitsstrategie ‚Forever Chocolate‘ (…) streben wir an, Kinderarbeit bis 2025 aus unserer Lieferkette zu verbannen."
Das wollte das Unternehmen - wie andere Größen des Geschäfts - eigentlich längst erreicht haben.

Kritik an Industrie: "20 Jahre gebrochene Versprechen"

Eine BBC-Dokumentation über weit verbreitete Kindersklaverei in den größten Kakaoanbaugebieten der Welt sorgte Ende 2000 international für Aufsehen. Die Industrie wies den Vorwurf, Hauptprofiteur dieser Ausbeutung zu sein, zunächst als "falsch und übertrieben" zurück. Später lenkte sich ein: Der Missbrauch von Kindern dürfe nicht ignoriert werden.

Im September 2001 unterzeichneten acht große Schokoladenunternehmen - darunter Mars, Hershey, Nestlé und Barry Callebaut - das so genannte "Harkin-Engel-Protokoll". Darin wurde vereinbart, bis 2005 die "schlimmsten Formen der Kinderarbeit" und der Zwangsarbeit von Erwachsenen auf Kakaoplantagen in Westafrika zu beseitigen.

Die Fristen wurden immer wieder verlängert. Im Jahr 2010 versprachen die Schokoladenunternehmen, bis 2020 die schlimmsten Formen der Kinderarbeit um 70 Prozent zu reduzieren. Das Ziel wurde verfehlt. Die Industrie habe 20 Jahre lang ihre Versprechen "gebrochen", resümiert das Inkota-Netzwerk, eine entwicklungspolitische Organisation mit Sitz in Berlin.

Streitpunkt Preispolitik

Einigkeit herrscht über den Zusammenhang von existenzieller Armut und Kinderarbeit. In der internationalen Kakao- und Schokoladenwirtschaft gibt es indes eine Kontroverse über die Hauptgründe für Armut und deren Beseitigung.

Die Bauern Westafrikas, die den wichtigsten Rohstoff für Schokolade liefern, klagen darüber, dass ihre Produktionskosten nicht im Kakaopreis berücksichtigt würden. Marktexperte Friedel Hütz-Adams ordnet ein: "Die Kosten laufen den Bäuerinnen und Bauern weg. Alle Marktteilnehmer wissen, dass es ohne signifikant höhere Kakaopreise keine Fortschritte im Kampf gegen Kinder- und Zwangsarbeit geben wird."

Hendrik Reimers, der mit seinem jungen Unternehmen fairafric in Ghana Schokolade für den afrikanischen und europäischen Markt produziert, sieht ein "Grundproblem" in den Geschäftsmodellen börsennotierter Unternehmen: "Die großen Schokoladenhersteller setzen auf möglichste niedrige Rohstoffpreise. Was anderes würde die Umsätze gefährden und dann würden die Aktionäre die Chefs wahrscheinlich rausschmeißen. Erst wenn Investoren und auch die Kunden etwas anderes wollen, wird sich etwas in den großen Kapitalgesellschaften verändern."

Branchenexperte Hütz-Adams weist auf ein zusätzliches Phänomen hin: "Viele Markenhersteller geben pro Tafel Schokolade mehr Geld für ihre Werbung aus als sie Kosten für den Kakao haben." Dies sei "verrückt".

Barry Callebaut: Blackbox indirekte Lieferkette

Ende 2022 lautet Barry Callebauts Zwischenbilanz: Mehr als 80 Prozent der Bauerngruppen, die Teil der direkten Lieferkette seien, verfügten inzwischen über "Systeme zur Verhinderung, Überwachung und Beseitigung" von Kinderarbeit - "verglichen mit 61,4 Prozent im Vorjahr".
Anders sehe es in der indirekten Lieferkette aus:
Beim Kauf von Kakao über Zwischenhändler ist es naturgemäß schwierig, Kinderarbeit auszuschließen.
Unternehmenssprecher Barry Callebaut
Investigativjournalist Johnston betrachtet derlei Aussagen als "faule Ausreden" und sieht es als Aufgabe der Politik, Schokoladenhersteller zu verpflichten, für völlige Transparenz in allen Lieferketten zu sorgen.  

Unternehmen preisen eigene Hilfsprogramme für Kinder an

Barry Callebaut, Mars Wrigley, Nestlé und andere verweisen indes auf ihre Hilfsprogramme für Kakaobauern und Initiativen gegen Kinderarbeit: "Kinder sollen runter vom Feld und rein in die Schule", wie eine Nestlé-Sprecherin es formuliert.
Friedel Hütz-Adams, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Südwind-Instituts, kritisiert hingegen: "Die Hilfsprogramme für Kakaobauern in Existenznot erreichen nur einen kleinen Teil der Menschen, die tatsächlich Hilfe benötigen." Es sei "definitiv zu wenig, um auf breiter Ebene einen echten Verbesserungseffekt zu haben".

Kritiker: Konzerne handeln "schizophren" und effektlos

Marktexperte Hütz-Adams bezeichnet es zudem als "schizophren", dass sich "die Hersteller weigern, höhere Preise zu zahlen mit dem Argument, sie würden so hinter die Konkurrenz zurückfallen –-gleichzeitig aber die Unternehmen irgendwelche eigenen Hilfsprogramme entwickeln, die die schlimmsten Folgen ihrer Einkaufspraxis bei den Rohstoffproduzenten etwas mildern sollen".
ZDFheute Infografik
Mehr
Mehr
Mehr
Auch andere Beobachter kritisieren: Gemessen an den Jahresumsätzen der Schokoladenindustrie seien die Ausgaben für den Kampf gegen Kinderarbeit verschwindend gering.
Santadarshan Sadhu, der sich als Wissenschaftler am NORC-Institut der Universität Chicago seit Jahren unter anderem mit der Kakaoindustrie auseinandersetzt, entwirft ein eindrückliches Bild über den möglichen Effekt der Hilfsprogramme:
Es ist, als würde man einen Eimer heißes Wasser in ein großes, kaltes Schwimmbecken gießen - die Menschen im Pool spüren keine Erwärmung.
Santadarshan Sadhu, Wissenschaftler am NORC-Institut

Mehr zum Thema Kinderarbeit