: Schlagkräftig oder "zahnloser Tiger"?

von Marcel Burkhardt
30.12.2022 | 18:14 Uhr
Ein neues Gesetz soll ab 2023 sicherstellen, dass keine Kinder mehr in den Lieferketten deutscher Unternehmen ausgebeutet werden. Kann es leisten, was es verspricht?
Wird das Lieferkettengesetz helfen, Kinderarbeit zu verhindern? Quelle: Reuters

Lieferkettengesetz: Das Wichtigste in Kürze

  • Ziel des "Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes" ist der Schutz von grundlegenden Menschenrechten
  • Insbesondere soll damit das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit durchgesetzt werden
  • Die Bundesregierung betrachtet das Gesetz als "schlagkräftig", Menschenrechtsorganisationen greifen die Regeln zu kurz
In Borna bei Leipzig packt ein kleines Team von 50 Leuten eine große Aufgabe an.
Die 50 Frauen und Männer des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) sollen von nun an überprüfen, ob die deutsche Wirtschaft grundlegende Menschenrechte in ihren internationalen Lieferketten schützt. 

Serie: Kinderarbeit ufert aus

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse legen nahe, dass das Ausmaß der globalen Kinderausbeutung womöglich noch größer ist als bislang bekannt. Was sind die Ursachen? Wer trägt wirtschaftlich und politisch Verantwortung? Welche Macht haben internationale Finanzinvestoren? Und helfen neue Lieferkettengesetze, Kinderrechte künftig besser zu schützen?

ZDFheute geht diesen Fragen in einer siebenteiligen Serie nach. Bisher erschienen:

Kritik: Zu wenig BAFA-Prüfer für so große Aufgabe

Bis zum Sommer will das Bundesamt die Teamstärke auf 100 Prüfer verdoppeln und 2024 weitere Leute einstellen. Kritiker bemängeln indes, dass die Behörde mit wenigen Kräften den Auftrag nicht erfüllen könne, das neue "Lieferkettengesetz" konsequent durchzusetzen.
Ein BAFA-Sprecher entgegnet auf ZDFheute-Anfrage, man sei "voll arbeitsfähig" und setze auf ein "schlankes und effizientes Verfahren".
Vom Lieferkettengesetz erfasst werden:
  • ab sofort circa 900 Unternehmen mit jeweils mehr als 3.000 Mitarbeitenden
  • ab 2024 circa 4.800 Unternehmen mit jeweils mehr als 1.000 Mitarbeitenden

Save the Children: Kinderarbeit "in nahezu jeder Branche"

Ziel ist es vor allem, das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit in den internationalen Lieferketten durchzusetzen. Denn laut Vereinten Nationen findet "moderne Sklaverei" noch immer "in jeder Region der Welt statt".
Ausbeuterische Kinderarbeit ist ein besonders gravierender Teil davon, "in nahezu jeder Branche", wie Philipp Appel von Save the Children Deutschland sagt.

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Branchen, die besonders von Kinder- und Zwangsarbeit profitieren, sind Experten zufolge neben der Elektro- und Textilindustrie vor allem die Lebensmittelbranche, insbesondere im Anbau von Kaffee, Kakao und Tee.

Neue Pflicht: Zulieferer genauer unter die Lupe nehmen

Deutsche Unternehmen, die Rohstoffe, Komponenten oder Produkte von ausländischen Zulieferern beziehen, sind von nun an aufgefordert, mit Blick auf mögliche Menschenrechtsverletzungen eine genaue Risikoanalyse sowie Präventions- und Abhilfemaßnahmen zu betreiben.
Fallen den BAFA-Prüfern in den Unternehmensberichten Ungereimtheiten auf, gibt es tiefergehende Kontrollen. Bei Verstößen gegen das Gesetz kann die Behörde Bußgelder bis zu 800.000 Euro verhängen.

Grenzen der Sorgfaltspflicht

Die Bundesregierung bezeichnet das Lieferkettengesetz als "schlagkräftig", Menschenrechtsaktivisten sehen darin eher einen "zahnlosen Tiger".
Ein Grund: Bei indirekten Zulieferern, Vorlieferanten also, "gelten die Sorgfaltspflichten nur anlassbezogen und nur, wenn das Unternehmen Kenntnis von einem möglichen Verstoß erlangt", wie es offiziell heißt.

Geschädigte weiter vor hoher juristischer Hürde

Einen weiteren Beleg der "Zahnlosigkeit" sehen sie in dem Fakt, dass eine zivilrechtliche Haftung der Unternehmen ausgeschlossen ist. Das bedeutet:
Für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen wird es auch weiterhin sehr schwierig sein, vor deutschen Gerichten eine Entschädigung einzuklagen.
Juliane Bing, Sprecherin des Inkota-Netzwerkes
Die entwicklungspolitische Organisation sieht in dem Lieferkettengesetz dennoch einen "ersten wichtigen Schritt" zum Schutz grundlegender Menschenrechte und einen Paradigmenwechsel: "Weg von Freiwilligkeit und Selbstverpflichtungen der Unternehmen, hin zu verbindlichen Regelungen".

NGO sieht deutsche Wirtschaft in erweiterter Pflicht

Um Ausbeutung von Kindern in den Lieferketten der Lebensmittelindustrie zu beenden, sieht Bing deutsche Unternehmen auch finanziell unter Zugzwang. Entscheidend werde sein, ob diese "existenzsichernde Preise an die Bauern bezahlen werden". Dies geschehe bislang vielfach nicht.
Wenn die Bauern einen Preis erhalten, der noch nicht einmal die Produktionskosten deckt, wie kann man da erwarten, dass Menschenrechte und Umweltstandards eingehalten werden?
Juliane Bing
Mit ihrer Frage weitet Bing den Blick auf die komplexen Zusammenhänge der Wirtschaft.

Schlagkräftige Durchsetzung der Regeln? "Augenmaß"!

Die 50 BAFA-Mitarbeiter in Borna richten ihre Prüfblicke dagegen von nun an auf die eingehenden Unternehmensberichte.
Die Behörde sei sich bewusst, dass die Firmen vor teils "komplexen" und "herausfordernden" Prozessen stünden, erklärt ein Sprecher: "Daher wird das BAFA bei den Prüfungen mit Augenmaß vorgehen und unternehmerische Realitäten angemessen berücksichtigen".  

Was ist Kinderarbeit?

Mit dem Begriff "Kinderarbeit" wird Arbeit beschrieben, die der körperlichen und geistigen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen schadet und/oder sie am Schulbesuch und Bildung hindert. Zu den schlimmsten Formen der Kinderarbeit zählen die Vereinten Nationen Tätigkeiten, die unter kriminellen und ausbeuterischen Bedingungen erfolgen und schädlich für die seelische und körperliche Gesundheit und Sicherheit sind.

Dazu zählen Kinderprostitution und Kinderpornografie, der Missbrauch von Kindern als Sklaven und Zwangsarbeiter, Soldaten oder Drogenschmuggler sowie schwer gesundheitsgefährdende Tätigkeiten wie Arbeit in Steinbrüchen oder in Bergwerken, das Tragen schwerer Lasten, der Umgang mit Chemikalien und gefährlichen Werkzeugen sowie Nachtarbeit.

Als Hauptgrund für Kinderarbeit gelten extreme Armut und Existenznot von Familien. Zuletzt hat die Corona-Pandemie weltweit Millionen Menschen ins Elend gerissen. Aber auch ausbeuterische Wirtschaftspraktiken, fehlende politische Fürsorge und Rechtsbrüche gelten als systemische Gründe für Armut und Kinderarbeit.

Wer ist von Kinderarbeit betroffen?

Laut Unicef ist die Zahl der Kinder von fünf bis elf Jahren in Kinderarbeit zuletzt deutlich angestiegen, sodass diese Altersgruppe inzwischen weltweit "etwas mehr als die Hälfte der von Kinderarbeit betroffenen Kinder stellt". 70 Prozent der Mädchen und Jungen arbeiten in der Landwirtschaft, 20 Prozent im Dienstleistungssektor und zehn Prozent in der Industrie.

Vom Schulbesuch abgehalten sind laut Unicef fast 28 Prozent der Kinderarbeiter im Alter von fünf bis elf Jahren und 35 Prozent der betroffenen Kinder im Alter von zwölf bis 14 Jahren. Die Zahlen zeigen: Kinderarbeit beeinträchtigt oder verhindert die Bildung der Kinder und grenzt ihre Zukunftschancen somit stark ein. Die meisten arbeitenden Kinder leben in Afrika und Asien.

Woher bezieht Unicef Informationen über Kinderarbeit?

"Eine der größten Quellen für statistisch fundierte und international vergleichbare Daten zur Kinderarbeit ist das von UNICEF unterstützte internationale Haushaltserhebungsprogramm Multiple Indicator Cluster Surveys (MICS)", erklärt Claudia Cappa, Unicef-Statistikexpertin. Dabei handele es sich um staatlich geführte Haushaltserhebungen, für die Unicef technische und finanzielle Hilfe leiste. "Bei einer typischen Haushaltsbefragung besuchen geschulte Feldarbeitsteams eine repräsentative Stichprobe von Haushalten und führen persönliche Interviews mit validierten Tools und Methoden durch", so Cappa.

Die Unicef-Expertin verweist in dem Zusammenhang auf "strenge Datenqualitätsprüfungen, die während der gesamten Umfragedurchführung angewendet werden". Ein international aktiver Datenerhebungsexperte, der namentlich nicht zitiert werden möchte, kritisiert dagegen "aus eigener Beobachtung" die häufig mangelhafte Ausstattung von Umfrage- und Kinderarbeit-Beobachtungsteams in ärmeren Ländern. Dies könne durchaus "einen wesentlichen negativen Einfluss auf die Qualität der Daten" haben.

Was fordert Unicef im Kampf gegen Kinderarbeit?

Setzt sich der aktuelle Negativtrend fort, steigt die Zahl ausgebeuteter Kinder weltweit weiter an statt bis 2025 gegen Null zu schrumpfen. Um den "generationenübergreifenden Teufelskreis" von Armut und Kinderarbeit zu brechen, fordert das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen unter anderem einen "angemessenen sozialen Basisschutz für alle, einschließlich der existenzsichernden finanziellen Absicherung von Kindern".

Das Kinderhilfswerk fordert zudem mehr Mittel für Bildung und den Aufbau von Bildungsinfrastrukturen in Regionen, in denen es bislang keine Schulen gibt. Außerdem fordert Unicef eine "Förderung von menschenwürdiger Arbeit für Erwachsene, damit Familien nicht auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen sind", um das Familieneinkommen zu sichern.

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