Grafiken

: Fairtrade: "Armut light" oder echte Hilfe?

von Marcel Burkhardt (Text) und Michaela Waldow (Grafiken)
23.12.2022 | 14:03 Uhr
"Größter Betrug des Jahrhunderts" oder doch ein Mittel, Handel gerechter zu machen und Kinderarbeit zu verhindern? Siegel wie "Fairtrade" geraten zunehmend in die Kritik.
Wie fair sind Gütesiegel wie Fairtrade wirklich?Quelle: dpa

Das Wichtigste in Kürze

  • Fairtrade verspricht Bauern und Arbeitern in Ländern des globalen Südens bessere Lebensperspektiven.
  • Kritiker dagegen sehen in dem Siegel ein "Feigenblatt" von Industrie und Handel des globalen Nordens.
  • Das Gros der zertifizierten Produkte sei "weit weg von nachhaltigem Handel".
Diese ganzen Zertifizierungsprogramme - Rainforest Alliance, Fairtrade und so weiter - für mich sind sie der größte Skandal, der größte Betrug des Jahrhunderts!
Ange Aboa, Nachrichtenkorrespondent, West- und Zentralafrika
Auch vier Jahre nach seinem denkwürdigen Auftritt in Brüssel steht der ivorische Journalist Ange Aboa zu seiner Aussage.
"Diese Siegel lassen Industrie und Handel vor den Konsumenten in einem besseren Licht stehen, den Bauern aber helfen sie nicht", sagt Aboa, der für Reuters seit 20 Jahren über das internationale Kakaogeschäft berichtet.

Serie: Kinderarbeit ufert aus

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse legen nahe, dass das Ausmaß der globalen Kinderausbeutung womöglich noch größer ist als bislang bekannt. Was sind die Ursachen? Wer trägt wirtschaftlich und politisch Verantwortung? Welche Macht haben internationale Finanzinvestoren? Und helfen neue Lieferkettengesetze, Kinderrechte künftig besser zu schützen?

ZDFheute geht diesen Fragen in einer siebenteiligen Serie nach. Bisher erschienen:

Regenwald-Rodung und Kinderarbeit trotz Schutzsiegel

Trotz Schutzsiegel der Rainforest Alliance werde in der Elfenbeinküste Regenwald gerodet für Kakaoplantagen. Trotz Fairtrade-Zertifizierung müssten Kinder "weiter unter schlimmsten Bedingungen" in Plantagen schuften, lebten Bauern in großer Armut, weil sie keine existenzsichernden Preise für ihre Kakaobohnen garantiert bekämen.
Seit Jahren habe sich nichts zum Besseren verändert:
Die Probleme mit der Kinderarbeit sind nicht gelöst.
Ange Aboa, Nachrichtenkorrespondent, West- und Zentralafrika
ZDFheute Infografik
Mehr
Mehr
Mehr

Vorwurf: Fairtrade bringt Bauern nur "Armut light"

Dabei will Fairtrade "Bauern des globalen Südens" und deren Familien zu besseren Lebensperspektiven verhelfen - durch garantierte Produkt-Mindestpreise und Prämien für Gemeinschaftsprojekte.
"Ausbeuterische Kinderarbeit ist strikt verboten", sagt Fairtrade-Sprecherin Hannah Maidorn. Ein Grundproblem jedoch: Der Kakao-Mindestpreis liegt deutlich unter dem Fairtrade-Referenzpreis für ein existenzsicherndes Einkommen. Diesen Referenzpreis zahlen bislang nur wenige Unternehmen.
Doch selbst jener Preis bedeute für die Bauern nur "Armut light", kritisiert der Menschenrechtsaktivist Fernando Morales-de la Cruz. "Es ist kaum genug fürs Überleben" und "weit entfernt von einem wirklich fairen Preis".

Experte: "Gefahr, Betrug am Verbraucher zu betreiben"

Die andere Seite der Medaille beschreibt Friedel Hütz-Adams, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bonner Südwind-Instituts:
Verbraucher vertrauen darauf, dass sie mit dem Kauf einer zertifizierten Schokolade deutliche Verbesserungen für die Kakaobäuerinnen und Kakaobauern und die Umwelt erreichen.
Friedel Hütz-Adams, Südwind-Institut
Da dies "nicht garantiert" sei, "laufen die großen Zertifizierer wie Fairtrade und die Rainforest Alliance Gefahr, Betrug am Verbraucher zu betreiben", so Hütz-Adams im ZDFheute-Gespräch.
ZDFheute Infografik
Mehr
Mehr
Mehr

Höhere Fairtrade-Preise, "sensible" Markt-Reaktionen

Maidorn verweist indes auf eine Fairtrade-Studie, der zufolge dank Fairtrade-Preisen extreme Armut ivorischer Kakaobauern deutlich zurückgegangen sei.
Gleichzeitig macht sie darauf aufmerksam, "wie sensibel der Markt" in Deutschland reagiere: 2019 beschlossene höhere Mindestpreise führten zu einem Rückgang der Fairtrade-Kakaoabsätze um rund zehn Prozent.
ZDFheute Infografik
Mehr
Mehr
Mehr
Maidorn sagt deshalb:
Ohne die Zusicherung des Handels, Preiserhöhungen mitzutragen oder wirksame politische Maßnahmen, die alle Unternehmen zur Zahlung höherer Preise verpflichten, geht es nicht.
Hannah Maidorn, Fairtrade-Sprecherin
ZDFheute Infografik
Mehr
Mehr
Mehr

Experte: "Weit weg von nachhaltigem Handel"

Kann Fairtrade den Schokoladen-Konsumenten zertifizierter Produkte garantieren, dass es keinerlei Kinderarbeit in den Lieferketten gegeben hat?
Kein seriöses Zertifizierungssystem der Welt kann garantieren, dass ein Produkt zu 100 Prozent frei von Kinderarbeit ist.
Hannah Maidorn, Sprecherin Fairtrade-Deutschland
Hütz-Adams zieht eine nüchterne Zwischenbilanz: Die Erwartungen an den Einfluss der Siegel habe man völlig überladen. Das Gros der zertifizierten Produkte sei tatsächlich "weit weg von nachhaltigem Handel".
Fairtrade und die Rainforest Alliance sind heute ein Feigenblatt für viele Unternehmen. Sie geben ihnen ein Saubermann-Image inklusive Greenwashing.
Friedel Hütz-Adams, Südwind-Institut
Die Siegel können zudem an ungleich verteilten Kräften der Marktteilnehmer nichts ändern.

Arme Bauern im Süden, Milliarden-Konzerne im Norden

Aus dem Kakao-Schokoladen-Geschäft etwa fließen laut Europäischer Kommission im Schnitt 70 Prozent des Gesamtwerts und 90 Prozent der Gesamtmargen den Schokoladenunternehmen und Einzelhändlern zu.
ZDFheute Infografik
Mehr
Mehr
Mehr
Oder anders gesagt: Von einem Euro, den eine Tafel Schokolade in Deutschland kostet, erhalten die Kakaobauern nur wenige Cent, obwohl sie den wichtigsten Inhaltsstoff liefern.

Was ist Kinderarbeit?

Mit dem Begriff "Kinderarbeit" wird Arbeit beschrieben, die der körperlichen und geistigen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen schadet und/oder sie am Schulbesuch und Bildung hindert. Zu den schlimmsten Formen der Kinderarbeit zählen die Vereinten Nationen Tätigkeiten, die unter kriminellen und ausbeuterischen Bedingungen erfolgen und schädlich für die seelische und körperliche Gesundheit und Sicherheit sind.

Dazu zählen Kinderprostitution und Kinderpornografie, der Missbrauch von Kindern als Sklaven und Zwangsarbeiter, Soldaten oder Drogenschmuggler sowie schwer gesundheitsgefährdende Tätigkeiten wie Arbeit in Steinbrüchen oder in Bergwerken, das Tragen schwerer Lasten, der Umgang mit Chemikalien und gefährlichen Werkzeugen sowie Nachtarbeit.

Als Hauptgrund für Kinderarbeit gelten extreme Armut und Existenznot von Familien. Zuletzt hat die Corona-Pandemie weltweit Millionen Menschen ins Elend gerissen. Aber auch ausbeuterische Wirtschaftspraktiken, fehlende politische Fürsorge und Rechtsbrüche gelten als systemische Gründe für Armut und Kinderarbeit.

Wer ist von Kinderarbeit betroffen?

Laut Unicef ist die Zahl der Kinder von fünf bis elf Jahren in Kinderarbeit zuletzt deutlich angestiegen, sodass diese Altersgruppe inzwischen weltweit "etwas mehr als die Hälfte der von Kinderarbeit betroffenen Kinder stellt". 70 Prozent der Mädchen und Jungen arbeiten in der Landwirtschaft, 20 Prozent im Dienstleistungssektor und zehn Prozent in der Industrie.

Vom Schulbesuch abgehalten sind laut Unicef fast 28 Prozent der Kinderarbeiter im Alter von fünf bis elf Jahren und 35 Prozent der betroffenen Kinder im Alter von zwölf bis 14 Jahren. Die Zahlen zeigen: Kinderarbeit beeinträchtigt oder verhindert die Bildung der Kinder und grenzt ihre Zukunftschancen somit stark ein. Die meisten arbeitenden Kinder leben in Afrika und Asien.

Woher bezieht Unicef Informationen über Kinderarbeit?

"Eine der größten Quellen für statistisch fundierte und international vergleichbare Daten zur Kinderarbeit ist das von UNICEF unterstützte internationale Haushaltserhebungsprogramm Multiple Indicator Cluster Surveys (MICS)", erklärt Claudia Cappa, Unicef-Statistikexpertin. Dabei handele es sich um staatlich geführte Haushaltserhebungen, für die Unicef technische und finanzielle Hilfe leiste. "Bei einer typischen Haushaltsbefragung besuchen geschulte Feldarbeitsteams eine repräsentative Stichprobe von Haushalten und führen persönliche Interviews mit validierten Tools und Methoden durch", so Cappa.

Die Unicef-Expertin verweist in dem Zusammenhang auf "strenge Datenqualitätsprüfungen, die während der gesamten Umfragedurchführung angewendet werden". Ein international aktiver Datenerhebungsexperte, der namentlich nicht zitiert werden möchte, kritisiert dagegen "aus eigener Beobachtung" die häufig mangelhafte Ausstattung von Umfrage- und Kinderarbeit-Beobachtungsteams in ärmeren Ländern. Dies könne durchaus "einen wesentlichen negativen Einfluss auf die Qualität der Daten" haben.

Was fordert Unicef im Kampf gegen Kinderarbeit?

Setzt sich der aktuelle Negativtrend fort, steigt die Zahl ausgebeuteter Kinder weltweit weiter an statt bis 2025 gegen Null zu schrumpfen. Um den "generationenübergreifenden Teufelskreis" von Armut und Kinderarbeit zu brechen, fordert das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen unter anderem einen "angemessenen sozialen Basisschutz für alle, einschließlich der existenzsichernden finanziellen Absicherung von Kindern".

Das Kinderhilfswerk fordert zudem mehr Mittel für Bildung und den Aufbau von Bildungsinfrastrukturen in Regionen, in denen es bislang keine Schulen gibt. Außerdem fordert Unicef eine "Förderung von menschenwürdiger Arbeit für Erwachsene, damit Familien nicht auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen sind", um das Familieneinkommen zu sichern.

Mehr zum Thema Kinderarbeit: