Interview

: "Bereicherung auf Rücken von Kindern"

10.01.2023 | 13:34 Uhr
Der Menschenrechtsaktivist Fernando Morales-de la Cruz beklagt "neokoloniale Geschäftsmodelle" und "Betrug am Verbraucher" durch Fairtrade. Fairer Handel sehe ganz anders aus.
Wie "fair" ist das Fairtraide-System?Quelle: epa
Der Menschenrechtsaktivist und Journalist Fernando Morales-de la Cruz setzt sich seit Jahren für Kinderrechte ein. Das Fairtrade-System kritisiert er scharf.
ZDFheute: Sie kritisieren das Fairtrade-System vehement als "großen Betrug". Warum?
Fernando Morales-de la Cruz: Die deutsche Organisation Fairtrade International verspricht, Armut zu tilgen,aber das passiert nicht. Die Preise, die Fairtrade zum Beispiel für Kaffee oder Kakao zahlt, reichen den Bauern bei Weitem nicht, um aus ihrer großen Armut herauszukommen. Die Prämien sind so gering, dass die Familien in einer Form von "Armut light" verharren. Das ist grausam - und das ist Betrug an den Konsumenten.

Fernando Morales-de la Cruz ...

Quelle: ZDF/Marcel Burkhardt
... ist Menschenrechtsaktivist, Journalist und Gründer mehrerer Initiativen, die sich für Kinderrechte einsetzen. Zuvor war der Exil-Guatemalteke, der heute in Frankreich lebt, als politischer Berater für mehrere Staatsregierungen tätig.
Lesen Sie hier, wie das Faitrade-System funktioniert und das, was das Unternehmen zu Kritik sagt:
ZDFheute: Der Fairtrade-Mindestpreis soll die Kosten der Bauern abdecken, um nachhaltig produzieren zu können. Hinzu kommen Gemeinschaftsprämien. In Pilotprojekten gibt es laut Fairtrade zudem einen Aufschlag, der die Lücke zum existenzsichernden Einkommen schließen soll.
Morales-de la Cruz: Fakt ist: Der Tageslohn von Hunderten Millionen Landarbeitern liegt unter dem Preis einer Tasse Kaffee in Berlin, München oder Hamburg. Mehr als 90 Prozent des in Deutschland und Europa konsumierten Kaffees, Tees und Kakaos tragen zu Armut und Kinderarbeit bei, weil die Bauern nur 25 bis 30 Prozent des realen Wertes ihrer Produkte erhalten. Arme Bauern im globalen Süden subventionieren Konzerne im Norden.
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ZDFheute: Fairtrade ist nur stark, wenn Industrie und Handel mitmachen. Im Jahr 2019 hat Fairtrade den Kakao-Mindestpreis um 20 Prozent erhöht. Laut Fairtrade gab es „sensible“ Reaktionen; die Kakaoabsätze mit dem Siegel gingen zurück …
Morales-de la Cruz: ... Ein weiteres Argument dafür, den Unternehmen dieses Feigenblatt zu entreißen. Schluss mit diesem faulen System, das es Industrie und Handel ermöglicht, sich Jahr für Jahr weiter auf Kosten der Rohstoffproduzenten zu bereichern. Auch auf dem Rücken unschuldiger Kinder. Viele sind bei der Schufterei tagtäglich Gefahren ausgesetzt. Sie verlieren ihre Lebensperspektiven, nur damit Konzernbosse ihren Aktionären möglichst hohe Dividenden ausschütten können. 
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ZDFheute: Das sind schwere Vorwürfe. Womit belegen Sie das?
Morales-de la Cruz: In vielen Rohstoffpreisen sind die tatsächlichen Produktionskosten nicht einberechnet. Mächtige Industrie- und Handelskonzerne diktieren die Preise und damit letztlich auch die Produktionsbedingungen. Ein Bauer, der keinen existenzsichernden Preis für seine Feldfrüchte erhält, kann sich keinen erwachsenen Helfer leisten. Ein Kinderarbeiter kostet ein Zehntel eines Erwachsenen.
Die Folgen des Kolonialismus haben sich manifestiert in massiven strukturellen Ungleichgewichten in der internationalen Handelspolitik und Wirtschaft: Auf der einen Seite Multi-Milliarden-Konzerne aus reichen Nationen, auf der anderen eine Heerschar von mittellosen Kleinbauern im globalen Süden, deren Knechtschaft auch unter dem Deckmantel von Fairtrade fortbesteht.
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ZDFheute: Was schlagen Sie vor, um mehr Fairness zu etablieren?
Morales-de la Cruz: Wir brauchen ein transparentes shared-value-System im Welthandel, das Rohstoffproduzenten fair an den Gewinnen beteiligt, die mit einem Endprodukt erzielt werden. Ein Beispiel: Bekämen die Bauern und Landarbeiter zehn Cent pro Tasse Kaffee, Tee oder Kakao, könnte das diesen Menschen wirklich ein Existenzminimum, fließendes Wasser, Bildung, eine angemessene Gesundheitsversorgung und Sozialversicherung bieten. Ein Teilen von 10 Cent pro Tasse Kaffee, das wäre mehr als das 30-fache dessen, was manche als Fairtrade-Prämie zu bezeichnen wagen.

Serie: Kinderarbeit ufert aus

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse legen nahe, dass das Ausmaß der globalen Kinderausbeutung womöglich noch größer ist als bislang bekannt. Was sind die Ursachen? Wer trägt wirtschaftlich und politisch Verantwortung? Welche Macht haben internationale Finanzinvestoren? Und helfen neue Lieferkettengesetze, Kinderrechte künftig besser zu schützen?

ZDFheute geht diesen Fragen in einer siebenteiligen Serie nach. Bisher erschienen:

ZDFheute: Es gibt Unternehmen, die solche Direktzahlungen an Rohstoffproduzenten betreiben. Es ist doch aber eine Staatsaufgabe, für das Bildungs- und Sozialwesen zu sorgen, nicht wahr?
Morales-de la Cruz: In vielen Staaten, die geprägt sind von Kolonialismus und Neo-Kolonialismus, sind staatliche Strukturen nur schwach. Dort braucht es viele Keimzellen, um Entwicklung in der Breite voranzubringen. Deshalb muss das Geld direkt an die Menschen und Gemeinden fließen, die etwas leisten und genau wissen, was sie noch brauchen, um sich und der nächsten Generation ein besseres Leben ermöglichen zu können.
Das Interview führte Marcel Burkhardt.

Wie Fairtrade International auf die Kritik reagiert

Zahlt Fairtrade den Bauern "existenzsichernde Preise“?

In einer schriftlichen Stellungnahme heißt es von Fairtrade Deutschland dazu: "Wir sind uns bewusst, dass höhere Rohstoffpreise notwendig wären, damit Fairtrade-Produzent*innen ein existenzsicherndes Einkommen erhalten. Aus diesem Grund haben wir 2019 Mindestpreis und Prämie für Kakao überarbeitet und beides um 20 Prozent angehoben. Das Ergebnis waren Absatzeinbrüche von rund 10 Prozent. Das zeigt die enorme Marktsensibilität. Würde Fairtrade den Mindestpreis auf existenzsicherndes Niveau anheben, liefen die Bäuerinnen und Bauern Gefahr, weitere Absätze zu verlieren. Dies nicht zu tun ist die Entscheidung der Produzent*innen selbst: Sie halten im Fairtrade-System 50 Prozent der Stimmrechte – keine Entscheidung wird ohne sie getroffen."

Weiterhin führt Fairtrade International aus: "Obwohl es höhere Preise braucht, können diese allein das Problem allerdings nicht lösen. Viele Familien besitzen zu wenig Land, um gut davon leben zu können. Aus diesem Grund spielen Diversifizierung und Professionalisierung ebenfalls eine wichtige Rolle. Aktuell ist Fairtrade das einzige Zertifizierungssystem überhaupt, das eine Strategie für die Erreichung existenzsichernder Löhne und Einkommen hat und die Zahlung sogenannter Referenzpreise für existenzsichernde Einkommen in entsprechenden Pilotprojekten testet."

Gibt es ohne "existenzsichernde Preise" positive Effekte für die Bauern geben?

Hierzu hält Fairtrade International fest: "Unterschiedliche Studien belegen die positive Wirkung des fairen Handels – gerade im Kakaoanbau. Laut einer von Fairtrade International beauftragten Studie] von 2020/21 konnten Kakaobäuerinnen und -bauern im westafrikanischen Côte d'Ivoire ihr Einkommen mithilfe von Fairtrade in den letzten Jahren um 85 Prozent steigern. Der Anteil derer, die in extremer Armut leben, sank deutlich.Kooperativen müssen im Schnitt allerdings 30 bis 40 Prozent ihrer Ernte zu Fairtrade-Bedingungen verkaufen, um vom fairen Handel zu profitieren. Je höher die Fairtrade-Absätze, desto größer die Wirkung. Mit 16 Prozent Marktanteil ist der Einfluss von Fairtrade somit begrenzt."

Werden im Fairtrade-System Kinder ausgebeutet?

Fairtrade International weist diesen Vorwurf vehement zurück: "Fairtrade verbietet Kinderarbeit nicht nur, sondern setzt sich über Programme aktiv dafür ein, Produzent*innen aufzuklären und ihnen verständlich zu machen, wie wichtig Bildung für die Zukunft der Kinder ist. Mithilfe der Prämien können Kooperativen zudem Geld in Bildung investieren. Dass sie dies tun, belegt die von Fairtrade International beauftragte Prämien- und Wirkungsstudie aus dem Jahr 2019. Obwohl der faire Handel ein wichtiges Werkzeug ist, um Kakaobäuerinnen und -bauern dabei zu unterstützen, sich zu organisieren und zu professionalisieren, ist er am Ende kein Allheilmittel gegen strukturelle Armut. Aus diesem Grund braucht es eine politische Lösung (durch entsprechende Gesetze), die alle Unternehmen gleichermaßen in die Verantwortung nimmt.“ 

Zusammengestellt von Marcel Burkart.

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