: Diese Faktoren sind entscheidend für Kiew

von Christian Mölling und András Rácz
11.05.2023 | 08:05 Uhr
Der Beginn der ukrainischen Gegenoffensive wird mit Spannung erwartet. Warum Kiew diese bereits frühzeitig angekündigt hat und welche militärischen Bedingungen wichtig sind.
Die Ukraine hat ihre Gegenoffensive bereits frühzeitig zu Beginn des Jahres angekündigt.Quelle: dpa
Die bevorstehende Gegenoffensive der Ukraine beherrscht bereits seit Monaten die öffentlichen Diskussionen über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dies ist nicht nur in der Ukraine und im Westen der Fall, sondern auch in Russland.
Ähnlich wie bei der Gegenoffensive in Cherson im vergangenen Jahr hat die Ukraine bereits Anfang 2023 angekündigt, dass sie einen Großangriff plant, um ihre verlorenen Gebiete zurückzuerobern. Diese frühe Ankündigung diente mehreren wichtigen Zwecken.

Frühe Ankündigung der Offensive: Das sind die Ziele

  • Erstens galt es, die Moral der ukrainischen Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Die ukrainische Zivilbevölkerung hatte während des Winters aufgrund der umfangreichen Kriegsschäden und insbesondere aufgrund der systematischen Angriffe Russlands auf die Energieinfrastruktur extreme Härten zu ertragen. Eine zuversichtliche Kommunikation über eine bevorstehende Gegenoffensive stärkte daher ihre moralische und psychologische Widerstandsfähigkeit.

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  • Zweitens war es wichtig, die Unterstützung aus dem Westen aufrechtzuerhalten und zu verstärken, und zwar sowohl militärisch als auch wirtschaftlich und politisch. Das letzte Mal, dass die Ukraine nennenswerte Gebiete zurückgewinnen konnte, war im November 2022, als die Stadt Cherson befreit wurde. Seitdem stagnieren die Fronten weitgehend, abgesehen davon, dass Russland allmählich etwas Boden um Bachmut gewinnt. Um also eine "Ukraine-Müdigkeit" im Westen zu vermeiden, hat Kiew monatelang an der Darstellung festgehalten, dass eine große Gegenoffensive vorbereitet wird.

Dr. Christian Mölling ...

Quelle: DGAP
... ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und leitet dort das Programm Sicherheit, Verteidigung und Rüstung. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.

Dr. András Rácz ...

Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.

Ständig steigende Erwartungen an die Ukraine

De facto laufen die Vorbereitungen bereits seit mindestens einem halben Jahr. Die Mehrheit dieser Maßnahmen ist jedoch streng geheim und wird dies auch bleiben.
Dies hat dazu geführt, dass der monatelange öffentliche Diskurs kaum durch Fakten untermauert werden konnte. Dies ließ die Erwartungen an die Offensive im öffentlichen Raum immer weiter wachsen.

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Diese militärischen Bedingungen bestimmen die Gegenoffensive

Diskussionen und Erwartungen treffen mit Blick auf die Frage, wann die Offensive beginnt, auf militärische Realitäten. Sie bestimmen den Beginn der Offensive:
  • Erstens will die Ukraine jetzt viel größere Gebiete befreien, als es die Regionen Cherson und Charkiw waren.
  • Zweitens haben sich die Russen intensiv auf den ukrainischen Angriff vorbereitet, indem sie Befestigungen gebaut, ihre bestehenden Verteidigungslinien verstärkt und Vorräte angelegt haben. Folglich wird die bevorstehende ukrainische Gegenoffensive eine viel größere und intensivere Operation sein müssen als alle bisherigen Gegenangriffe, die größere und detailliertere Vorbereitungen erfordern.
Karte: Russische Verteidigungsanlagen an der Grenze zur Ukraine und in den besetzten Gebieten (20.04.2023)Quelle: ZDF
  • Der dritte Faktor sind die Klima- und Geländebedingungen. Nach dem extrem milden Winter und dem verregneten Frühjahr in diesem Jahr dauert es mindestens noch einige Wochen, bis der Boden in den vorderen Regionen trocken ist. Der Boden muss sich so weit verfestigen, dass er nicht nur das Gewicht der rund 40 Tonnen schweren ukrainischen T-72-Panzer tragen kann, sondern auch das der westlichen Panzer, die zum Teil über 60 Tonnen schwer sind.
  • Ein vierter Faktor ist der bevorstehende NATO-Gipfel in Vilnius am 11. und 12. Juli. Für ihn wäre es wünschenswert, bereits spektakuläre Ergebnisse vorweisen zu können. Dies könnte Kiew helfen, sich zusätzliche Unterstützung und Finanzierung durch den Westen zu sichern.

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Vorstellungen über die Offensive überzogen

All diese Faktoren in Verbindung mit Äußerungen ukrainischer und westlicher Beamter deuten darauf hin, dass der Beginn der Gegenoffensive wahrscheinlich irgendwann Ende Mai oder Anfang Juni erfolgen wird. Es ist jedoch zu beachten, dass eine Gegenoffensive von solchem Ausmaß nicht wie ein Autorennen mit einer spektakulär geschwenkten Startflagge beginnt.
Es ist wahrscheinlicher, dass die Gegenoffensive durch eine allmähliche Intensivierung der Kämpfe - möglicherweise parallel auf mehr als einem Abschnitt der Front - gekennzeichnet ist und erst danach ein Durchbruch erfolgt.
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