: War Schwedens Corona-Sonderweg doch richtig?

von Oliver Klein
09.03.2023 | 11:27 Uhr
Eine Statistik weist für Schweden während der Corona-Jahre die niedrigste Übersterblichkeit der gesamten EU aus. War Schwedens Sonderweg ohne große Corona-Maßnahmen der bessere?
Schweden während der Pandemie: Geöffnete Restaurants und kaum Corona-AuflagenQuelle: dpa
Zu Beginn der Pandemie wurde Schweden oft als warnendes Beispiel genannt, was passieren kann, wenn man weitgehend auf Schutzmaßnahmen gegen Corona verzichtet. Fast 24.000 Covid-Tote wurden bislang gezählt, in einem Land mit gerade einmal gut zehn Millionen Einwohnern. Die meisten der Gestorbenen waren über 70 Jahre alt, viele hatten sich in Pflegeheimen infiziert. Staatsepidemiologe Anders Tegnell räumte ein, dass gerade der Schutz der älteren Menschen in der ersten Welle nicht funktioniert hatte.
Und nun? Neue Zahlen des schwedischen Statistikamts SCB scheinen Schweden und seinen Sonderweg in der Pandemie doch noch zu bestätigen: In der Gesamtschau hatte das Land in den Corona-Jahren 2020 bis 2022 den Daten zufolge die niedrigste Übersterblichkeitsrate der EU. Die durchschnittliche Zahl der Todesfälle pro Jahr war in Schweden gegenüber den vorangegangenen drei Jahren um 4,4 Prozent gestiegen. In allen anderen EU-Staaten war die Übersterblichkeit höher: In Norwegen gab es 5 Prozent, in Deutschland 8,6 und in Bulgarien sogar fast 20 Prozent mehr Todesfälle.

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Wie passt das zusammen? War Schwedens Sonderweg im Nachhinein doch der bessere, Schutzmaßnahmen gegen Corona überflüssig? ZDFheute hat mehrere Experten für Bevölkerungsentwicklung, Gesundheit und medizinische Statistik um eine Einschätzung gebeten.

Schweden hat in Skandinavien die meisten Covid-Toten

Vergleicht man die Anzahl der nachgewiesenen Covid-Toten in den verschiedenen Ländern, steht Schweden plötzlich gar nicht mehr so gut da: Das Land hatte bis Anfang März 2023 insgesamt über 2.200 Tote pro eine Million Einwohner zu beklagen. In den anderen skandinavischen Länder sieht es deutlich besser aus: Finnland verzeichnet gut 1.600 Covid-Tote pro eine Million Einwohner, Dänemark gut 1.400, Nowegen nicht mal 1.000.
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Auch Deutschland kann mit gut 2.000 Toten pro eine Million Einwohner immer noch bessere Zahlen vorweisen als Schweden. Bei allen EU-Ländern zusammengenommen sind es im Schnitt 2.700 Tote pro eine Million Menschen.

Zahl der Corona-Todesfälle international schwer vergleichbar

Doch auch diese absoluten Zahlen sind weniger eindeutig als sie auf den ersten Blick scheinen. Denn: "Die Art, in der verschiedene Länder Corona-Todesfälle definieren und erheben, unterscheiden sich zum Teil ganz erheblich. Die Corona-Zahlen verschiedener Länder kann man deshalb nur begrenzt miteinander vergleichen", erklärt Volkswirtschaftsprofessor Christoph Rothe vom Lehrstuhl für Statistik der Universität Mannheim.
Deshalb betrachten viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Übersterblichkeit als einen besseren Vergleichsmaßstab, um die Folgen der Corona-Pandemie in verschiedenen Ländern einschätzen zu können.
Ein Todesfall ist ein Todesfall. Da gibt es keine unterschiedlichen Definitionen.
Christoph Rothe, Universität Mannheim zur Übersterblichkeit als besseren Vergleichsmaßstab

Berechnung der Übersterblichkeit ist komplex

Nun hat aber auch die Berechnung der Übersterblichkeit ihre Tücken. In der Regel wird die absolute Zahl aller Todesfälle in einem bestimmten Zeitraum betrachtet und dann berechnet, wie viele Todesfälle im selben Zeitraum erwartet worden wären.

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Doch bei der Berechnung der Zahl, wie viele Todesfälle zu erwarten gewesen wären, steckt der Teufel im Detail: Nimmt man einen Durchschnitt der Todeszahlen der vergangenen Jahre als Datengrundlage? Oder berücksichtigt man einen Trend der Sterberaten? "Das kann schon zu unterschiedlichen Ergebnissen führen", erklärt  Sebastian Klüsener, Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.

Experte: Anderes Ranking ebenso plausibel

Die schwedische Statistikbehörde ermittelte einen Durchschnitt der Sterblichkeit für die Jahre 2017 bis 2019. Dann verglich sie diese Zahlen mit den Daten von 2020 bis 2022. Doch hier kann eine Verzerrung entstehen: In Schweden zeigt die Sterberate (die Zahl der Todesfälle pro Jahr pro 1.000 Einwohner) in den Jahren vor der Pandemie eine fallende Tendenz, während sie in etlichen anderen Ländern wie Frankreich, Spanien, Italien oder Deutschland seit Jahren anstieg.
Würde man diesen jeweiligen Trend der Sterblichkeit als Grundlage der Berechnung der Übersterblichkeit verwenden, ließe das die Zahlen in Schweden schlechter und die anderer Länder besser aussehen. Experten wie Rothe oder Jonas Schöley vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung gehen zwar davon aus, dass die Übersterblichkeit in Schweden im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern durchaus eher gering ist. Aber bei den Berechnungen der schwedischen Behörde sei die statistische Unsicherheit des Resultats so groß, dass auch ein anderes Ranking "ebenso plausibel" sei, so Schöley:
Schon kleine Änderungen an der Berechnungsmethode führen dazu, dass Schweden den ersten Platz räumen muss.
Jonas Schöley, Max-Planck-Institut für demografische Forschung

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Übersterblichkeit nicht nur von Corona beeinflusst

Wichtig ist auch: Die Übersterblichkeit wird nicht zwangsläufig vor allem von der Zahl der Corona-Toten beeinflusst. "Übersterblichkeit ist auch abhängig von anderen Faktoren - beispielsweise von Grippewellen oder Hitzewellen, wie wir sie beispielsweise in Deutschland 2022 erlebt haben. Generell wurden in skandinavischen Ländern die Daten der Übersterblichkeit weniger stark durch Corona beeinflusst", erklärt Klüsener.
"Und das unabhängig davon, ob sie relativ wenig Einschränkungen wie Schweden oder strengere Regeln wie Dänemark und Norwegen hatten." Dagegen gibt es andere Länder wie Italien und Spanien, die trotz strenger Eindämmungsmaßnahmen hohe Übersterblichkeiten verzeichneten.
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Bevölkerungsstruktur in Skandinavien spielt eine Hauptrolle

Viele andere Faktoren spielen eine Rolle: "Zum Beispiel hat Schweden eine völlig andere Bevölkerungs- und Siedlungsstruktur als Italien", so Klüsener. "In Italien leben Familien oft eng beieinander, da gibt es viel täglichen Austausch zwischen Kindern, Eltern und Großeltern. Das vergrößert die Ansteckungsgefahr in Risikogruppen. In Schweden leben die unterschiedlichen Generationen einer Familie seltener eng beieinander." Dazu kommt: Schweden ist bis auf die drei großen Ballungsräume Stockholm, Göteborg und Malmö relativ dünn besiedelt.
Stockholm war gerade im ersten Jahr auch ein Hotspot von Corona. Da, wo Schweden dicht besiedelt ist, gab es also auch Hotspots mit Übersterblichkeit.
Sebastian Klüsener, Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung
Dass die Altersstruktur einer Gesellschaft und die Bevölkerungsentwicklung nicht in der Statistik berücksichtigt wurde, räumt auch Tegnell ein. Er nennt deshalb die Übersterblichkeits-Statistik einen "recht groben Maßstab". Dennoch sei ein großer Teil der internationalen Kritik an Schwedens Umgang mit der Pandemie nicht gerechtfertigt gewesen, so Tegnell.

Experte: Statistik spricht für Schweden

"Letztlich spricht die Statistik für Schweden", sagt auch Hanno Ulmer, Leiter des Instituts für Medizinische Statistik und Informatik der Medizinischen Universität Innsbruck. Es sei aber kein "direkter Beweis", dass der Sonderweg funktioniert habe - dafür seien die Daten nicht geeignet, so Ulmer. "Viele Faktoren können da einfach nicht einberechnet werden."
Fazit: Schweden kam mit vergleichsweise wenig Corona-Maßnahmen viel besser durch die Pandemie als zu Beginn befürchtet und verzeichnet eine relativ geringe Übersterblichkeit. Das spricht dafür, dass der Weg für Schweden und seine Bevölkerungsstruktur angemessen war. Als Beweis, dass Corona-Maßnahmen keine Wirkung oder mehr Schaden als Nutzen haben, dient Schweden nicht.

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