: "In einem Albtraum aufgewacht"

25.10.2023 | 11:43 Uhr
Das Leben für die Menschen im Gazastreifen ist schwierig: Kaum noch Treibstoff oder Essen, Trinkwasser ist rationiert. Vielen schwindet die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Die Situation der Zivilisten in Gaza spitzt sich weiter zu. Das Flüchtlingshilfswerk der UN für Palästinenser befürchtet, dass ohne Treibstoff Hilfe kaum noch möglich sei.

25.10.2023 | 01:48 min
Die Tage beginnen für die Palästinenserin Jusra Abu Scharech im südlichen Gazastreifen oft nach schlaflosen Nächten. Die ständigen israelischen Luftangriffe, Sirenen von Krankenwagen und das Gelärme von Nachbarn machen es schwer, ein Auge zuzutun. Bei Tagesanbruch ist die 33-jährige Mutter unterwegs, auf der Suche nach Brot, und häufig steht sie stundenlang vor Bäckereien Schlange, um ein Stück zu ergattern, damit ihre zwei Kinder etwas zu essen haben.
Nachmittags eilt sie zu einer UN-Notunterkunft, etwa 20 Minuten entfernt, um dort ihre kranke Mutter zu besuchen. Angst ist ihr ständiger Begleiter. Zumal dann, wenn - wie so oft - Kriegsflugzeuge in der Luft donnern.

Kein Benzin, Strom, Wasser oder Essen

In der UN-Unterkunft kann sie endlich ihr Handy aufladen und Kontakt zu ihrem 66-jährigen Vater aufnehmen, der daheim im Norden, in Gaza-Stadt, geblieben ist. Er hat sich hartnäckig geweigert, der israelischen Evakuierungsanordnung zu folgen.

Nach der Evakuierung des Nordens haben viele Menschen Zuflucht im Süden des dicht besiedelten Küstenstreifens gefunden. Viele sind jetzt in Chan Yunis nahe des Grenzortes Rafah.

25.10.2023 | 01:21 min
Noch vor zwei Wochen hatte Abu Scharech ein gedeihliches Leben, sie sorgte für ihre Kinder und hatte einen guten Job, den sie liebte.
Ich habe das Gefühl, dass wir entweder damals geträumt haben oder wir uns jetzt in einem Albtraum befinden.
Jusra Abu Scharech, lebt im Gaza-Streifen
"Jeder hat Pläne gemacht. Jeder hat das Leben genossen, so gut es ging. Plötzlich laufen wir auf den Straßen herum, ohne Benzin für unsere Autos, Strom, Wasser oder Essen. Heimstätten sind verloren, Leute werden getötet."

Einige im Gazastreifen schafften es, voranzukommen

Es ist ein Gefühl, das viele teilen, die wie Abu Scharech Gazas kleiner, aber aufkeimender Mittelschicht angehörten. Die dabei waren, sich ein gutes Leben aufzubauen - trotz der bereits 16-jährigen israelischen Blockade des Gazastreifens, den weitgehenden Reisebeschränkungen und der langsamen Erosion öffentlicher Institutionen unter der Herrschaft der militant-islamistischen Hamas. Sie waren in der Lage, in die Ausbildung ihrer Kinder zu investieren, in örtliche Firmen und sogar in private Bungalows am Strand.

Israel verschiebt möglicherweise die Bodenoffensive im Gazastreifen, berichtet das Wall Street Journal. Michael Bewerunge berichtet aus Tel Aviv.

25.10.2023 | 01:18 min
Zwar stieg die Arbeitslosigkeit allgemein an, die wirtschaftlichen Bedingungen verschlechterten sich immer mehr. Doch ein kleiner Teil der Gesellschaft schaffte es voranzukommen. Diese hart erkämpften Fortschritte, die Träume von guten Jobs, dem Besuch ausländischer Universitäten und vom Kauf eines Eigenheims - das alles ging binnen weniger Tage verloren, nachdem Israel der Hamas nach deren Massakern auf israelischem Boden den Krieg erklärt hatte.

Ungewisse Zukunft

Wenn diese Menschen jetzt an ihre Zukunft denken, ist da für viele nur ein Vakuum: Waren sie vor dem Krieg in angesehenen Berufen wie beispielsweise Grafikdesigner oder Architekt tätig, können sie sich heute schlicht keine Existenz jenseits der täglichen Angst vor einem tödlichen Luftangriff vorstellen.

Die Bekämpfung des Terrorismus ist für Deutschlands Außenministerin "essenziell" - trotzdem stimmt sie gegen eine humanitäre Waffenruhe für Gaza.

23.10.2023 | 01:30 min
Abu Scharech hatte im Sommer dank eines Fulbright-Stipendiums ein Ingenieurdiplom an der Portland State University im US-Staat Oregon erworben und war danach heimgekehrt - voller Enthusiasmus und Freude, wieder bei ihrer Familie zu sein und einen begehrten Job im Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza-Stadt erhalten zu haben. Aber binnen einer Woche nach den Hamas-Attacken am 7. Oktober brach das alles in sich zusammen - wie viele Häuser in ihrer Nachbarschaft unter den israelischen Bombardierungen. Das Krankenhaus wurde Schauplatz einer schrecklichen Explosion mit Hunderten Toten.

"Unwürdige" Bedingungen in UN-Camps

Jetzt hält sich die Palästinenserin mit 70 anderen vertriebenen Verwandten in einem Haus in Chan Junis auf, und jeder Tag beginnt mit der Sorge, wie man an Brot für die vielen Kinder in dieser Großfamilie kommen kann. Abu Scharechs zwei Söhne, fünf und zehn Jahre alt, leben meistens von Bohnen aus der Büchse. Wasser ist rationiert - gerade mal 300 Milliliter pro Person am Tag. Und nachts herrscht in der Bleibe völlige Dunkelheit.

Zu Hunderttausenden bringt sich die Bevölkerung des Gazastreifens vor der erwarteten Offensive Israels in Sicherheit. Die WHO warnt vor einer "Katastrophe" binnen 24 Stunden.

16.10.2023 | 01:41 min
Trotzdem findet es Abu Scharech hier noch besser als in der nach ihren Angaben schmutzigen und völlig überfüllten UN-Unterkunft, in der ihre Mutter lebt. Dort sind an die 20.000 Menschen untergebracht - fast das Elffache der ursprünglich vorgesehenen Kapazität - und draußen sind Zelte aufgestellt worden. Es gibt keine ständige Versorgung mit Essen oder Wasser. Im Freien häuft sich Müll auf. Männer und Frauen stehen vor Toiletten Schlange. Die Wartezeit ist so lang, dass Kämpfe ausbrechen. "Es ist unwürdig", sagt Abu Scharech über die Lebensbedingungen.

Angst um Familie und Hab und Gut

Aber ihre 63-jährige Mutter hatte sich nirgendwo anders sicher gefühlt, trotz Warnungen von Verwandten, dass sogar UN-Unterkünfte nicht vor israelischen Bomben gefeit seien. Tatsächlich sind in den insgesamt 91 Einrichtungen des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge in Gaza nach offiziellen Angaben seit Kriegsbeginn zwölf Menschen getötet und 180 verletzt worden.
ZDFheute Infografik
Mehr
Mehr
Mehr
Abu Scharechs daheim gebliebener Vater berichtet derweil von einer zunehmend verzweifelten Lage in ihrer Wohngegend in Gaza-Stadt: Demnach brechen Leute auf der Suche nach Essen in Häuser ein und wandern auf den Straßen herum, in der Hoffnung, irgendetwas Brauchbares zu finden. Abu Scharech fürchtet jedes Mal, dass ihr Vater nicht antwortet, wenn sie ihn anruft. Oder dass sie, wenn sie die sozialen Netzwerke durchgeht, das Haus, in dem sie mit ihrem Mann und den Kindern gelebt hat, in der Liste der zerstörten Gebäude findet. Es wurde bereits bei einem Luftangriff beschädigt - und das ihres Bruders praktisch dem Erdboden gleichgemacht.
Sie selbst wollte auch nicht aus Gaza-Stadt weg. Aber ihr Mann überredete sie. Er sagte, dass zumindest den Kindern die Schrecken der Luftangriffe erspart werden und sie zusammenbleiben sollten, schildert Abu Scharech. "Aber wie wir erlebt haben, gibt es Luftangriffe überall."
Quelle: AP

Thema

Aktuelle Nachrichten zum Nahost-Konflikt