Interview

: Experte: Schluss mit "Leugnen und Verdrängen"

22.07.2023 | 04:40 Uhr
Die Krisen der vergangenen Jahre haben existenzielle Ängste in der Gesellschaft ausgelöst, sagt Sozialforscher Klaus Hurrelmann. Politisch profitiere davon vor allem die AfD.
"Folgt uns und wir können wieder normal leben" - In unsicheren Zeiten trifft die AfD den Nerv der verunsicherten Menschen.Quelle: dpa
Die AfD befindet sich aktuell im Höhenflug. Im ZDF-Politbarometer rangiert sie um die 20 Prozent, noch vor SPD und Grünen. Und das obwohl der Verfassungsschutz die Partei deutschlandweit als Verdachtsfall einstuft, in Thüringen sogar als gesichert rechtsextrem.
Doch woran liegt das? Sozialforscher Klaus Hurrelmann nennt im Interview mit ZDFheute Gründe für den Erfolg der Partei und erklärt, wie und warum sich die deutsche Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert hat.
ZDFheute: Herr Hurrelmann, die Fälle von Gewaltkriminalität und häuslicher Gewalt sind in Deutschland stark angestiegen. Woran liegt das?
Klaus Hurrelmann: Sie bestätigen, dass die Forschungsergebnisse zutreffen, die wir in den vergangenen Jahren gesammelt haben. Besonders in der jungen Generation, aber auch darüber hinaus, haben Corona-Pandemie, Klimakrise und Ukraine-Krieg existenzielle Ängste ausgelöst. Wenn Menschen das Gefühl haben, Krisen nicht bewältigen zu können, dann kommt es zu Ausweichhandlungen - eine davon ist die Aggression. Man geht mit dem ganzen Druck nach draußen und wälzt ihn auf andere ab. Aber das ist nur ein Ventil.

Klaus Hurrelmann...

Quelle:
... Jahrgang 1944, ist Verhaltens- und Jugendforscher. Er ist lehrt als Professor of Public Health and Education an der Hertie School. Sein Forschungsinteresse gilt dem Bereich Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik. Er ist Mitglied des Leitungsteams mehrerer fortlaufender nationaler Studien zur Entwicklung von Familien, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
ZDFheute: Welche weiteren Ventile kommen hinzu?
Hurrelmann: Eine andere Ausweichhandlung ist, das Ganze nach innen zu tragen, was zu Depressionen und Angststörungen führen kann. Eine dritte Variante ist das Betäuben, durch Alkohol, Drogen oder auch Spiele. All das hat bei jungen Menschen, aber auch bei vielen im fortgeschrittenen Alter zuletzt deutlich zugenommen. Wir müssen uns da wirklich Sorgen machen. Die ganze Gesellschaft befindet sich in einer Art post- und prä-traumatischen Phase.
ZDFheute: Was meinen Sie damit?
Hurrelmann: Ganz viele Menschen merken erst jetzt, was für eine riesige Belastung das für sie in der Corona-Zeit war und sie sind noch immer erschöpft. Gleichzeitig kommen aber schon die nächsten existenziell bedrohlichen Krisen durch die Klimaveränderung und den Krieg in Europa, wo man auch nicht weiß, was man da als Einzelner tun kann. Das führt zu weit verbreiteten Gefühlen von Stress, Ohnmacht und Aggression. Eine Folge dessen ist auch das Erstarken des politischen Extremismus.
Immer mehr Kinder und Jugendliche warten auf Therapie-Plätze:

Die Zahl psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen – und dadurch auch die Nachfrage nach Therapieplätzen – ist durch die Coronapandemie deutlich gestiegen.

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ZDFheute: Warum profitieren bestimmte Kräfte stark davon?
Hurrelmann: Da kommt zum Beispiel eine Partei, die sich als eine Art "Volksbeschützerin" geriert und ein weitverbreitetes Grundgefühl aufgreift: Jetzt aber mal Stopp, lasst uns in Ruhe! Bloß keine neuen Reformen! Lieber zurück zum Alten! Gleichzeitig geht diese Partei, die AfD, auf alle existenziellen Krisen ein und findet ganz eigene Antworten darauf, die erstaunlich verfangen.
ZDFheute: Womit, meinen Sie, trifft die AfD besonders den Nerv?
Hurrelmann: Etwas überzeichnet sagt die AfD: Corona-Pandemie? Hat es eigentlich nie gegeben! Das Impfen? War ein gefährliches Experiment! Die Klimakrise? Gibt es nicht! Der Ukraine-Krieg? Hätten wir Herrn Putin mal besser freie Bahn gelassen, könnten wir hier in Ruhe leben! Migration? Am besten alles abriegeln und die Flüchtlinge, die schon da sind, wieder rausjagen!
Dieses Programm spricht erschreckend viele Teile dieser erschöpften und verunsicherten Gesellschaft an. Das Versprechen heißt: Folgt uns und wir können wieder normal leben.
Klaus Hurrelmann, Sozialforscher
Diesen Narrativen setzt die Ampel-Koalition meines Erachtens zu wenig entgegen.
Die AfD erreicht im ZDF-Politbaromter Höchstwerte:

Nach dem aktuelle Politbarometer erreicht die AfD ihren bisherigen von 20 Prozent. Dass die Stimmung in der Koalition schlecht sei, das finden rund drei Viertel der Befragten.

14.07.2023 | 01:44 min
ZDFheute: Worin sehen Sie deren größte Versäumnisse?
Hurrelmann: Die Ampel-Regierung hat das Erbe von Angela Merkel angetreten, die den Leuten das Gefühl vermittelte: Ihr könnt euch alle zurücklehnen, Mutti macht das! Damit hat sie viele Ängste der Menschen abgefangen. Aber wo bleibt heute die Mutti oder der Vati? Da ist ein großes Vakuum spürbar. Die Regierung geht alle Themen ganz rational an, verhebt sich dabei aber immer wieder erkennbar.
Die Koalitionspartner haben sich ineinander verkrallt, blockiert, gelähmt. Dieser Krach macht die Situation noch schlimmer.
Klaus Hurrelmann
ZDFheute: Welche Ansätze sehen Sie, die Gesellschaft aus der schwierigen Phase herauszuholen?
Hurrelmann: Das ist alles andere als einfach, aber die Richtung ist klar: Es braucht eine echte Stressbewältigungsstrategie. Leugnen und Verdrängen der Krisen funktioniert auf Dauer nicht. Die Regierung darf auch nicht den Eindruck erwecken, dass sie für alle Probleme Patentrezepte hat, sondern muss die Bürgerinnen und Bürger einbeziehen. Kanzler Scholz ist da gefordert und könnte gleich nach der Sommerpause anfangen.
ZDFheute: Mit einer Art "Ruckrede" oder an was denken Sie?
Hurrelmann: Ja, warum nicht mit einer weiteren "Zeitenwende-Rede", in der er ehrlich darauf eingeht, dass wir existenzbedrohenden Krisen ausgesetzt sind, viele Menschen zurecht Ohnmachtsgefühle haben, aber dass wir da gemeinsam rauskommen können, wenn alle mithelfen. Die Gesellschaft braucht neue Impulse, sonst drohen Lethargie, Pessimismus, Stillstand.
Das Interview führte Marcel Burkhardt.

Stichwahlen mit AfD-Beteiligung gibt es im Osten immer öfter. Zehn Jahre nach Gründung der Partei erobert die AfD in Thüringen ein Amt auf Kreisebene – ein Präzedenzfall.

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