Interview

: WHO-Sprecher verteidigt Hamas-Zahlen

15.11.2023 | 18:29 Uhr
Die WHO beklagt "verheerende Zustände" in Gaza. Die umstrittenen Hamas-Angaben zu Totenzahlen verteidigt ein Sprecher im ZDFheute-Interview als "verlässlich".
WHO-Sprecher zur Lage in Krankenhäusern: "Es fehlt an allem, von Frischwasser über Müllabfuhr bis hin zu medizinischer Versorgung."Quelle: AFP
Die WHO ist derzeit in Gaza mit einigen lokalen Mitarbeitern vor Ort, sammelt Daten und besucht Krankenhäuser. Auch mit dem palästinensischen Gesundheitsministerium, das von der radikal-islamischen Terrorgruppe Hamas kontrolliert wird, arbeitet die Weltgesundheitsorganisation zusammen - laut eigener Angaben aber nur in Teilen, und zwar mit der "technischen Seite".
ZDFheute hat mit WHO-Sprecher Christian Lindmeier über die aktuelle Situation im Küstenstreifen gesprochen.
ZDFheute: Herr Lindmeier - was hören Sie im Moment von WHO-Mitarbeitern in Gaza?
Christian Lindmeier: Wir haben noch keine Nachrichten, wie es heute aussieht. Das Letzte, was wir gestern gehört haben, ist, dass die Zustände wirklich verheerend sind in den betroffenen Krankenhäusern. Es fehlt an allem, von Frischwasser über Müllabfuhr bis hin zu medizinischer Versorgung. Es gibt kein Verbandsmaterial, keine Blutkonserven, keinen Strom, um Apparaturen betreiben zu können.

Die humanitäre Lage im Gazastreifen wird prekärer: Laut Hamas-Angaben steht das Al-Schifa-Krankenhaus weitgehend still. Das israelische Militär habe sich vor dem Gebäude formiert.

13.11.2023 | 01:44 min
ZDFheute: Die israelische Armee sagt, die Menschen sollen die Al-Schifa-Klinik verlassen, warum ist das nicht passiert?
Die Frage ist, wohin? Nicht nur raus zur Tür, sondern wohin dann?
Christian Lindmeier, WHO-Sprecher
Lindmeier: Wenn Sie in Deutschland ein Krankenhaus verlegen wollen, dann muss da monatelange Planung hinein. Da steht eine Kette von Hilfspersonal, von Ambulanzen, von technischem Gerät, dass das dann von A nach B bringt. Das ist im Gazastreifen im Moment nicht gegeben. Und es ist Aufgabe von Israel, das zu lösen. Genauso wie es WHO-Aufgabe ist, an die Kranken und die Pflegebedürftigen zu denken, ist es deren Aufgabe, die Proportionalität zu gewährleisten.
Natürlich gäbe es auf der ägyptischen Seite Möglichkeiten. Die Logistik ist schon seit Wochen aufgebaut mit der WHO und den ganzen UN-Organisationen, mit Ägypten und allen zusammen. Es gibt Referenzkrankenhäuser, die weiter verteilen können. Aber da muss erst mal Zugang gewährleistet werden.

Die israelische Armee hat die Al Schifa-Klinik in Gaza-Stadt gestürmt. ZDF-Korrespondent Stefan Leifert in Tel Aviv berichtet über die aktuelle Lage.

15.11.2023 | 01:32 min
ZDFheute: Jetzt hört man von den UN und der WHO viel Kritik an Israel, aber relativ wenig an der Hamas, die Menschen als menschliche Schutzschilde benutzt. Woran liegt das?
Lindmeier: Die UN haben von Anfang an die Attacken auf Israel verurteilt. Wir fordern die bedingungslose Freilassung der Geiseln oder auch erstmal Zugang zu den Geiseln. Wir kümmern uns um die Schutzbedürftigen, um die Opfer. Im Moment ist die Bevölkerung in Gaza unter Druck. Es stimmt, dass in der Enge des Gazastreifens die Hamas aus allen Häusern herauskämpft oder sich Berichten zufolge unter Krankenhäusern verschanzt - das ist verachtungswürdig.
Wir haben auch immer wieder gesagt, dass der Missbrauch eines Krankenhauses dem Völkerrecht absolut entgegensteht.
Christian Lindmeier, WHO-Sprecher
Allerdings entspricht es eben auch nicht dem Völkerrecht, Krankenhäuser, Pflegepersonal zu attackieren (Anmerkung der Redaktion: völkerrechtlich umstritten. Hier finden Sie mehr Hintergründe zu diesem Thema). Und hier macht das eine Unrecht, das andere nicht besser oder hebt es nicht auf. Wir denken konkret an die Opfer, an alle Opfer.

Die humanitäre Situation im Gazastreifen ist laut Einschätzung von WHO-Sprecher Christian Lindmeier "verheerend". Die medizinische Versorgung sei allgemein "ganz schlecht".

14.11.2023 | 12:01 min
ZDFheute: Die WHO übernimmt die Opferzahlen, die von der Terrororganisation Hamas kommen und von der WHO eigentlich nicht überprüfbar sind, oder?
Lindmeier: Das ist richtig. Aber wie in jedem Konflikt ist es so, dass Daten immer leicht variieren. Aber das Gesundheitsministerium dort hat zum Beispiel die Totenlisten mit Namen und Identifikationsnummer rausgegeben, da besteht schon eine gewisse Kontrolle.
Und schauen Sie: Zahlen in solchen Konflikten sind immer fluktuierend. Es können auch mal hundert mehr oder weniger sein. Überall auf der Welt, wo Konflikte sind, müssen Zahlen korrigiert werden. Aber ein Punkt, der noch ganz wichtig ist:
Ob es jetzt 12.000 Tote in Gaza sind und 5.000 Kinder davon oder 11.000 und 4.800 Kinder - würden wir wirklich eine andere Diskussion haben, wenn es dieser Unterschied wäre?
Christian Lindmeier, WHO-Sprecher

Israel will offenbar doch Treibstofflieferungen in den Gazastreifen für humanitäre Zwecke zulassen. Zuvor hatte die UNO aufgrund des Treibstoffmangels Alarm geschlagen.

15.11.2023 | 00:22 min
ZDFheute: Sie würden also sagen, dass die WHO ein gewisses Vertrauen hat, in die Angaben der Hamas?
Lindmeier: Ja, haben wir. In die Zahlen des Gesundheitsministeriums, des technischen Apparats, das muss ich wirklich unterstreichen. Wir sind nicht mit der politischen Seite konfrontiert.
Die Zahlen, die wir vom Gesundheitsministerium haben, haben eine relativ hohe Verlässlichkeit, weil wir historisch gesehen mit denen über Jahrzehnte und Jahre schon zusammengearbeitet haben.
Christian Lindmeier, WHO-Sprecher
ZDFheute: Aber inwieweit sehen Sie es trotzdem als problematisch an, jetzt im Moment der Hamas vertrauen zu müssen?
Lindmeier: Wir müssen in jedem Land der Erde, ob das Afghanistan, Jemen oder sonst was ist, mit denen zusammenarbeiten, die de facto die Herrschaft am Boden haben. Dass wir jetzt dadurch quasi eine Art Zusammenarbeit mit der Hamas haben, ist sicher nicht gut, weil es von dem eigentlichen Thema ablenkt. Das eigentliche Thema sind die Patienten, sind die Schutzbedürftigen, ist das Pflegepersonal, sind die Krankenhäuser.
Das Interview führte Eva Schiller.
Quelle: ZDF

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